Frieda Adam - „Dann bleibste hier“

Frieda Adam - „Dann bleibste hier“

Bundespräsident Dr. Richard von Weizsäcker (* 1920, † 2015) antwortete nie auf jenen Brief, der ihm in den 80er Jahren von Erna Putermann (geb. 1919, Sterbejahr unbekannt) geschrieben worden war - und damit lange, lange Jahre nach dem Ende des NS-Regimes. Die schon betagte Petentin wird nicht erwartet haben, dass eine Reaktion zu ihrem Anliegen ausblieb, hatte sie sich gegenüber dem deutschen Staatsoberhaupt doch für eine Auszeichnung ihrer besten Freundin eingesetzt, der sie nicht weniger als ihr Leben zu verdanken hatte. Erna Putermann war Jüdin - und die mit ihr befreundete Frieda Adam (* 1919, † 2013) hatte ihr mehr als zweieinhalb Jahre lang mit bedingungsloser Hilfe zur Seite gestanden, als sie einst in Berlin die innerstädtische Flucht vor dem Naziterror angetreten hatte.

Flucht in die Schönhauser Allee
Die Spurensuche zu der lange verborgen gebliebenen Geschichte von Frieda Adam und von Erna Putermann führt in Berlin nach Prenzlauer Berg und dort zum mehrgeschossigen Wohnhaus in der Schönhauser Allee 90. Die Haustür an der beschriebenen Adresse ist unscheinbar und liegt direkt neben einer kleinen Eckkneipe, hinter deren staubigen Fenstern und blassen Fassaden am Tresen das alte Berlin mit all seiner rauen Herzlichkeit zu schlummern scheint. Frieda Adam lebte lange Jahre in der Schönhauser Allee 90, aber bis zum heutigen Tag deutet nichts an diesem Haus auf das hin, was sie seit einem Herbstabend im Jahr 1942 erlebte und leistete.


Der 20. November 1942 wird ein kalter Tag gewesen sein - und in den Abendstunden klingelte es bei Frieda Adam, die gemeinsam mit ihren drei Kindern hier wohnte. Erna Putermann stand vor dem Haus, in tiefer Verzweiflung und auf der Flucht vor dem Naziterror - und Frieda Adam öffnete ihr die Tür. Die Freundin war, wie sich schnell zeigte, mit ihrer Kraft und mit ihren Nerven beinahe am Ende. Sie zitterte, war außer Atem und weinte und weinte, da ihre Mutter, am vorherigen Tag von der Gestapo verhaftet worden war, wie sie Frieda Adam sogleich berichtete. Sie ahnte zu diesem Zeitpunkt noch nicht, dass sie einander nie wiedersehen sollten: Die Mutter von Erna Putermann wurde unter dem NS-Regime deportiert und ermordet. Erna Putermann selbst, der ebenfalls die Verhaftung und die Verschleppung drohten, war deshalb voller Angst aus der heimischen Umgebung davongelaufen, dies aber ohne ein festes Ziel. Stunde um Stunde war sie in Berlin umhergestreift, bis ihr Weg durch die damalige Reichshauptstadt sie schließlich zu Frieda Adam führte - und damit zu einer Freundin, auf die schon immer Verlass gewesen war. Die Mutter war also „mitgenommen“ worden, wie Erna Putermann es formulierte - und Frieda Adam, die sie in ihre Wohnung gelassen hatte, entschied sofort: „Dann bleibste hier.“

Die Entbehrungen einer „Soldatenfrau“ - und einer Freundin
Frieda Adam führte zu diesem Zeitpunkt, wie so viele andere Frauen in ganz Berlin und im gesamten Deutschen Reich, das entbehrungsreiche Leben einer „Soldatenfrau“, da ihr Ehemann zur „Wehrmacht“ einberufen worden war und nun als Soldat im II. Weltkrieg an der Front war, fernab der Heimat. Das Ehepaar hatte drei Kinder, die im Herbst 1942 gerade einmal sechs und vier und zwei Jahre alt waren und die Frieda Adam nun allein zu versorgen hatte. Die Wohnung bot kaum noch Platz, das zuvor gegebene Wort der Hausfrau jedoch galt: Sie nahm die zu ihr geflüchtete Erna Putermann bei sich auf.


Die Frauen waren beide in Berlin geboren worden, kannten sich seit dem Jahr 1939 aus der gemeinsam durchlaufenen Lehre zur Näherin und hatten sich zu dieser Zeit schnell miteinander angefreundet. Erna Putermann war unter dem NS-Regime schon bald darauf zur Zwangsarbeit für die Siemens AG verpflichtet worden. Frieda Adam jedoch hatte auch weiterhin zu ihr gestanden, auch als die Lage für die jüdische Bevölkerung im gesamten nationalsozialistischen Deutschen Reich durch immer neue Zwangsmaßnahmen immer bedrohlicher geworden war. Die Frauen erzählten in viel späterer Zeit etwa von einem gemeinsamen Nachmittag inmitten des pulsierenden Stadtzentrums: Erna Putermann hatte unter dem NS-Regime seit dem Herbst 1941 auf ihrer Kleidung gut sichtbar den so genannten „Judenstern“ zu tragen. Frieda Adam war mit ihrer Freundin dennoch auf dem Kurfürstendamm spazieren gegangen, Seite an Seite und trotz aller antisemitischen Beschimpfungen.

Das Leben war für Erna Putermann jedoch unbeschreiblich hart geblieben, vor allem wegen der auch ihr drohenden bzw. im Falle der Mutter bereits erfolgten Verhaftung durch die Geheime Staatspolizei. Der 20. November 1942 wurde schließlich zum Zeitpunkt, an dem es galt, sie vor dem Naziterror zu verstecken. Frieda Adam nahm es auf sich. Der Plan aber, der bei ihr untergekommenen Freundin vorerst für ein paar Tage zu helfen und dann neu zu bedenken, wie eine Rettung hoffentlich gelingen werde, wandelte sich. Die Zeit verging und aus Tagen wurden Wochen und aus Wochen wurden Monate und aus Monaten wurden Jahre, in denen Erna Putermann bei ihrer Freundin wohnte - immer auf allerengstem Raum, aber weiterhin in treuer Freundschaft.

„..., dann reicht’s auch für sechs!“
128 Reichsmark standen Frieda Adam als einer „Soldatenfrau“ in jedem neuen Monat gerade einmal zur Verfügung, um ihre drei Kinder und sich selbst zu versorgen. Sie schaffte es dennoch, von dem sehr knapp bemessenen Geld nicht nur ihren Nachwuchs zu versorgen, sondern auch sich selbst und ihre bei sich versteckte Freundin, für die sie ihr Leben riskierte - Tag für Tag. Frieda Adam verstand sich seit jeher darauf, entschlossen und voller Tatkraft zuzupacken - und sie nahm im Herbst 1943 auch noch den Bruder von Erna Putermann bei sich auf.

Der gehörlose junge Mann hieß Jakob Putermann (Lebensdaten unbekannt) und hatte versteckt auf einem Dachboden unweit der Schönhauser Allee 90 gelebt - bis Frieda Adam zu ihm gekommen war, um ihn vor einem Verrat zu warnen, nachdem seine Anwesenheit in der Nachbarschaft bemerkt worden war. Sie ließ auch ihn bei sich wohnen, da er der Bruder ihrer besten Freundin war - und gemeinsam mit dem versteckten Geschwisterpaar und ihren Kindern meisterte sie weiterhin alle zunehmenden Entbehrungen, insbesondere die Lebensmittelknappheit. „Frieda sagte nur: ‚Wenn es für uns vier genug zu essen gibt, dann reicht’s auch für sechs!‘“, berichtete Erna Putermann, als sie viele Jahre danach über ihr Leben unter dem NS-Regime sprach. Jakob Putermann lebte für mehrere Wochen in der Schönhauser Allee 90, bis die Retterin in der Not ein neues Versteck für ihn organisieren konnte.


Scheidung in der Nachkriegszeit, Ehrung in Yad Vashem
Gefahr drohte im Laufe der Zeit durch eine vermutlich nicht erwartete Wendung. Der Ehemann von Frieda Adam herrschte sie bei einem Heimaturlaub von der Front an, ihre versteckte jüdische Freundin aus der gemeinsamen Wohnung fortzuschicken. Der Mann drohte seiner eigenen Ehefrau in blanker Wut schließlich damit, sie bei der Gestapo anzuzeigen, weil sie eine Jüdin bei sich versteckte. Frieda Adam konnte ihn mit Versprechungen „hinhalten“, vorerst jedoch nur - und nach und nach wurde klar, dass es zwingend notwendig war, einen neuen Ort zu finden, an dem Erna Putermann im Verborgenen leben konnte. Frieda Adam nutzte deshalb die Silvesternacht des Jahres 1944, um ihre Freundin in das Versteck ihres ebenfalls „untergetauchten“ Bruders zu bringen - und die Geschwister überlebten das NS-Regime und den II. Weltkrieg dank der resoluten, immer wieder neu zupackenden Hausfrau, die bis zuletzt an ihrer Seite blieb.

Sie ging in der Nachkriegszeit einen weiteren Schritt, der ihr in den vorangegangenen Jahren besonders wichtig geworden war: Frieda Adam reichte die Scheidung ein und setzte ihren Lebensweg ohne jenen Mann fort, der ihr einst sogar mit Verrat bei der Geheimen Staatspolizei gedroht hatte. Die Freundschaft zu Erna Putermann jedoch blieb - bis zum Lebensende und auch nach weiteren Wendungen der deutschen Zeitgeschichte. Die Berliner Mauer trennte die beiden Frauen in späterer Zeit voneinander: Frieda Adam lebte in Ost-Berlin, Erna Putermann lebte in West-Berlin.

Die Frauen jedoch wurden beide alt - sehr, sehr alt. Die Freundschaft der beiden Damen überdauerte auch die langen Jahrzehnte der deutschen Teilung bzw. der Mauer und sie sahen sich an ihrem Lebensabend noch oft. Erna Putermann setzte sich seit den 80er Jahren zudem in der gebotenen Beharrlichkeit für eine angemessene Auszeichnung der aufopferungsvollen Rettungstat ihrer besten Freundin ein - auch nachdem Bundespräsident Dr. Richard von Weizsäcker auf ihren entsprechenden Wunsch nicht reagiert hatte, wie in den ersten Zeilen dieses Essays geschildert.


Erna Putermann fand schließlich Gehör, dies aber fernab der Bundesrepublik Deutschland: Frieda Adam wurde im Dezember 1992 von Yad Vashem als „Gerechte unter den Völkern“ anerkannt, mehr als 50 Jahre nach dem einstigen Herbstabend, an dem Erna Putermann zu ihr geflohen war. Die Auszeichnung erfolgte im Juni 1993 in Bonn durch Mordechay Lewy (* 1948), der zu dieser Zeit als israelischer Generalkonsul in der Bundesrepublik Deutschland fungierte - und die beiden Frauen waren unzertrennlich, gingen auch zu diesem besonders feierlichen Termin Seite an Seite, wie schon so oft in den vorangegangenen Jahrzehnten.

Nicolas Basse M. A. - Berlin, im Mai 2023

Literatur
Fraenkel, Daniel / Borut, Jakob (Hgg.): Lexikon der Gerechten unter den Völkern - Deutsche und Österreicher, Göttingen 2005.

Jacob, Rena: Frieda Adam - Eine Gerechte unter den Völkern, in: ‚Sunday News‘ vom 12. Mai 2013.

Kahn, Anna-Patricia: Im Garten der Gerechten, in: ‚FOCUS‘ vom 13. November 2013.

Kleine-Brockhoff, Thomas / Kurbjuweit, Dirk: Die anderen Schindlers, in: ‚Die Zeit‘ vom 1. April 1994.
Quellen online bzw. auf Websites
Website https://jfr.org/ der „Jewish Foundation for the Righteous“: Eintrag zu Frieda Adam.

Website https://righteous.yadvashem.org/, Datenbank der „Gerechten unter den Völkern“ der Gedenkstätte „Yad Vashem“: Eintrag zu Frieda Adam.

Valeska Buchholz - Mut unter einer vergessenen Adresse

Valeska Buchholz - Mut unter einer vergessenen Adresse

Die Rettungstat konnte sehr eingehend rekonstruiert werden, der Stadtteil und die Straße und das Haus, in dem sie sich zutrug, dagegen sind unbekannt geblieben. Die Spurensuche auf vergangenen Lebenswegen zeitigt bisweilen eigenartige Rechercheergebnisse, so auch im Falle von Valeska Buchholz, die in Berlin unter dem NS-Regime ein jüdisches Ehepaar vor der Deportation in ein KZ bewahrte - und von der heute nicht einmal mehr zu erahnen ist, wo sie in der damaligen Reichshauptstadt lebte.

Hausangestellte eines weltbekannten Arztes
Die Fragmente eines sehr bemerkenswerten Lebensweges: Valeska König - so ihr Familienname bei der Geburt - arbeitete in den 30er Jahren in Berlin als Kinderfrau und Hausangestellte für die Familie von Prof. Dr. Oskar Fehr (geb. 1871, gest. 1959), eines weltweit angesehenen Augenchirurgen. Der Professor leitete u. a. seit dem Jahr 1907 die augenärztliche Abteilung des so bedeutenden Rudolf-Virchow-Klinikums im Wedding (und damit im Stadtzentrum). Die Zwangsmaßnahmen und der antisemitische Hass des NS-Regimes trafen gleichwohl auch diesen hervorragenden und sehr erfahrenen Spezialisten der Augenheilkunde, der jüdischen Glaubens war. Oskar Fehr wurde unter dem immer stärker werdenden Naziterror im Jahr 1934 aus seinem Krankenhaus verstoßen - und im Jahr 1938 wurde ihm zudem die Approbation entzogen. Valeska König blieb gleichwohl bis zum August 1939 im Haushalt von Oskar Fehr tätig, der wenige Wochen vor dem damaligen Angriff des nationalsozialistischen Deutschen Reiches auf Polen bzw. dem II. Weltkrieg mit seiner Familie nach Großbritannien fliehen konnte. (Der Weg ins Exil bedeutete die Rettung: Oskar Fehr nahm im Jahr 1947 die britische Staatsangehörigkeit an und er verstarb im Jahr 1959 in greisem Alter in London.)

Valeska König heiratete, nachdem Oskar Fehr mit seiner Familie die Flucht angetreten hatte - und ihr Ehemann war ihr von ihrer Arbeitsstelle her bestens bekannt: Rudi Buchholz, dessen Familiennamen sie annahm, war ebenfalls für Familie Fehr tätig gewesen und arbeitete nun als Hausmeister für einen Wohnblock in Berlin - bis er zur „Wehrmacht“ einberufen wurde. Das Leben unter dem NS-Regime bzw. im II. Weltkrieg wird sehr hart und von vielen Entbehrungen bestimmt gewesen sein, doch als sie um Hilfe gebeten wurde, entschied sich Valeska Buchholz, sofort zu handeln und zu helfen. Sie wurde im März 1943 von Dina und Heinz Krieger (oder Brieger*) kontaktiert, einem jüdischen Ehepaar, das in früherer Zeit in dem von Rudi Buchholz betreuten hauptstädtischen Wohnblock gelebt hatte. Das Paar hatte bereits seinen Deportationsbefehl erhalten und war nun auf der Flucht und dabei zugleich so verzweifelt, dass sich die Ehefrau und der Ehemann bereits mit Selbstmordgedanken trugen.


Der Lebensweg von Frau Buchholz liegt, wie bereits beschrieben, im Dunkeln, aber im entscheidenden Moment bewies sie, wie eindeutig belegt ist, sehr großen Mut: Sie nahm beide Eheleute auf, versteckte sie im Anbau ihrer Portierswohnung und versorgte sie trotz aller organisatorischen Schwierigkeiten heimlich mit Lebensmitteln. Dies gelang nun Monat für Monat in jeder neuen Woche, bis das Haus im Herbst 1943 bei einem alliierten Luftangriff getroffen wurde und danach starken Bombenschaden aufwies. Das Ehepaar, das von Frau Buchholz versteckt worden war, fand schnell eine neue Zuflucht - und es überlebte den Naziterror bzw. den II. Weltkrieg. Das Fragezeichen hinter der Lage ihres einstigen Verstecks jedoch steht bis heute: Der Wohnort von Valeska und Rudi Buchholz innerhalb Berlins ist unbekannt bzw. in Vergessenheit geraten - wie auch ihr weiterer Lebensweg, bis auf zwei wesentliche Gewissheiten.

"Fate: survived" - und mehrere Fragezeichen
„Fate: survived“ steht in der biographischen Notiz zu Valeska Buchholz (in englischer Sprache) in der Datenbank von Yad Vashem. Sie hat das NS-Regime demnach ebenfalls überlebt - und sie wurde im März 1984 als „Gerechte unter den Völkern“ ausgezeichnet. Die Hoffnung etwa auf eine Valeska-Buchholz-Straße bzw. auf eine anderweitige Ehrung in Berlin bleibt deshalb - zumal eine solche angesichts der nur sehr spärlich vorhandenen Spuren ihres Lebensweges umso wichtiger wäre, denn selbst das Geburtsdatum und das Sterbedatum der so mutigen Helferin in der Not sind nicht bekannt.

Nicolas Basse M. A. - Berlin, im Januar 2023

* Der Eintrag zu Valeska Buchholz in der Datenbank der „Gerechten unter den Völkern“ von Yad Vashem weist den Familiennamen des von ihr versteckten jüdischen Ehepaares zuerst als Krieger, dann aber (im Seitenbereich „Rescued Persons“) als Brieger aus.
Literatur
Fraenkel, Daniel / Borut, Jakob (Hgg.): Lexikon der Gerechten unter den Völkern - Deutsche und Österreicher, Göttingen 2005.
Quellen online bzw. auf Websites
Website https://righteous.yadvashem.org/, Datenbank der „Gerechten unter den Völkern“ der Gedenkstätte „Yad Vashem“: Eintrag zu Valeska Buchholz.

Lydia Forsström - Rettung am Campus der Charité

Lydia Forsström - Rettung am Campus der Charité

„Wir kamen zu spät“, berichtete Martina Voigt, nachdem alle Nachforschungen abgeschlossen worden waren. Die Historikerin, die für die „Gedenkstätte Stille Helden“ in der Stiftung Gedenkstätte Deutscher Widerstand in Berlin sehr wertvolle Forschungsarbeit leistet, fasste mit den gerade zitierten Worten die Recherchearbeiten zu einer „Gerechten unter den Völkern“ zusammen. Die Suche, die damit verbunden gewesen war, hatte im Jahr 2010 bis in das niedersächsische Bergen geführt hatte - und damit in den Landkreis Celle, nördlich von Hannover. Lydia Forsström (* 1919, † 2006) war der Name jener Frau, die in Bergen ihren Lebensabend verbracht hatte, die hier im Jahr 2006 verstorben war und deren Geschichte rekonstruiert werden sollte. Der Grund für das geschichtswissenschaftliche Interesse an ihr stammte aus der Zeit des nationalsozialistischen Deutschen Reiches: Lydia Forsström war in jungen Jahren bzw. in ihrer studentischen Zeit gegen den Naziterror in den Widerstand gegangen.

Sie war eine mutige Frau und trug vor allem entscheidend dazu bei, einer von ihr versteckten Jüdin unter dem NS-Regime das Leben zu retten - und dies mitten in Berlin. Die Spurensuche nach dem Lebensweg von Lydia Forsström führte mich mehr als eineinhalb Jahrzehnte nach ihrem Tod deshalb in das Stadtzentrum unweit des Berliner Hauptbahnhofs. Das Haus, das ich suchte, steht schon seit langer Zeit nicht mehr, doch die Straße, in der es sich befand, wird bis heute immer wieder von vielen Menschen durchquert - und zwar Tag für Tag in jeder neuen Woche.

Haus lange abgerissen, Adresse noch bekannt: Luisenstraße 67 in Berlin-Mitte
Die Suche in Berlin führte zum nördlichen Ende der Luisenstraße, die auf die traditionsreiche Invalidenstraße bzw. auf den davor gelegenen Platz vor dem Neuen Tor und den Robert-Koch-Platz zuläuft. Ich stand schließlich also auf dem Campus der Charité - und auch das nach Prof. Dr. Robert Koch (* 1843, † 1910) benannte kleine Areal direkt im Schatten des so genannten „Bettenhauses“ der Klinik verdeutlicht hier die bedeutende medizingeschichtliche Vergangenheit des gesamten Stadtteils. Das so traditionsreiche Krankenhaus wurde bereits in lange vergangenen Zeiten zu einem der wichtigsten medizinischen Wissenschaftszentren in ganz Europa - und das ist die Charité noch heute. Die Vergangenheit jedoch lebt in allen hauptstädtischen Straßen von der Vielfalt ihrer Geschichte(n) - und umso mehr ist zu bedauern, dass nichts daran erinnert, dass am Campus der Charité einst eine junge Studentin lebte, die in der NS-Zeit in ihrer Wohnung einen jüdischen Mitmenschen vor der Deportation in ein KZ bewahren konnte.


Lydia Forsström, die besagte Retterin, wohnte damals im inzwischen abgerissenen Haus in der Luisenstraße 67. Die Adresse ist im „Lexikon der Gerechten unter den Völkern - Deutsche und Österreicher“ belegt, das in erster Auflage im Jahr 2005 erschienen ist. Sie wurde für ihre wiederholte Hilfe, die sie unter dem Naziterror für mehrere verfolgte Mitmenschen leistete, im Jahr 1980 in Yad Vashem als „Gerechte unter den Völkern“ ausgezeichnet. Der Lebensweg von Lydia Forsström ist in Deutschland bzw. in Berlin gleichwohl bis an ihr Lebensende weithin unbekannt geblieben - und die Rekonstruktion desselben gestaltete sich schwierig.

Widerstand aus dem christlichen Glauben: Die ESG
Wir wissen heute, dass Lydia Forsström seit ihrer Kindheit im Deutschen Reich lebte, zugleich aber die finnische Staatsangehörigkeit besaß - und nachgewiesen ist neben der postalischen Anschrift ihres einstigen Wohnsitzes, dass sie als junge Frau in Heidelberg und in Berlin studierte und in dieser Zeit zugleich in der Evangelischen Studentengemeinde (ESG) engagiert war. Die ESG-Gruppen wurden im Jahr 1938 im gesamten Deutschen Reich von der Gestapo verboten. Die Neugründung solcher studentischen Gemeinden wurde zugleich unter Strafe gestellt. Der Widerstand der protestantischen Gruppen hatte in ihrer Hilfe für jüdische Mitmenschen und zudem für so genannte „nicht-arische“ Christinnen und Christen bestanden, die von der ESG vor allem mit Verstecken sowie mit Lebensmitteln und mit gefälschten Personaldokumenten unterstützt worden waren. Lydia Forsström hatte das NS-Regime bereits vor dem Verbot der ESG abgelehnt und sich dem Naziterror widersetzt - wie so viele ihrer gläubigen Kommilitoninnen und Kommilitonen aus der nun zerschlagenen Gemeinde.

Sie blieb auch weiterhin im Widerstand, der in der Hilfe für die „untergetauchte“ Liselotte Pereles (geb. 1906, gest. 1970) gipfeln sollte, die in Berlin bis zum Februar 1943 einen jüdischen Kindergarten leitete. Liselotte Pereles trat damals angesichts immer zahlreicherer Deportationen die Flucht vor dem Naziterror an - gleichsam im letzten Moment und gemeinsam mit Susanne Manasse (Lebensdaten unbekannt), ihrer Nichte bzw. ihrer Pflegetochter, die erst neun Jahre alt war, als beide in den Untergrund gingen.

Quäkerin im widerständigen Untergrund: Elisabeth Abegg
Hilfe erhielten die Frau und das Kind in der damaligen Reichshauptstadt zuerst von Elisabeth Abegg (* 1882, † 1974), die Quäkerin war - und zugleich der organisatorische Kopf eines festverbundenen Netzwerks von mutigen Menschen, die geflohenen Jüdinnen und Juden in Berlin durch vielfältige Hilfe zur Seite standen. Frau Abegg, in den 50er Jahren mit dem Bundesverdienstkreuz und in den 60er Jahren als „Gerechte unter den Völkern“ ausgezeichnet, stellte Lydia Forsström und Liselotte Pereles schließlich einander vor, als sie auf der Suche nach einem Versteck für die „untergetauchte“ Kindergartenleiterin war. Die beiden miteinander bekannt gemachten Frauen waren sich zuvor noch nie begegnet, aber die gläubige Christin nahm den geflohenen Mitmenschen sofort bei sich auf. Sie wohnten fortan für eineinhalb Jahre gemeinsam in der kleinen Einzimmerwohnung in der Luisenstraße 67 - direkt im immer belebten Stadtzentrum, nahe u. a. dem Bahnhof Friedrichstraße.


Liselotte Pereles hatte (getarnt unter dem Familiennamen ‚Koch‘) zuvor bereits in verschiedenen Verstecken gelebt - und der Weg zu Lydia Forsström war mit einem für sie entscheidenden, schmerzhaften Schritt verbunden: Sie musste getrennt von ihrer Pflegetochter bei der Helferin einziehen, die in ihrer Wohnung lediglich einen einzelnen Menschen aufnehmen konnte.

Der Zusammenhalt der Frauen war sehr, sehr fest - und das Leben wurde zugleich von vielen Herausforderungen bestimmt. Lydia Forsström aber teilte, was sie hatte, immer bereitwillig mit der von ihr versteckten Jüdin - insbesondere ihre Lebensmittel. Sie half zudem weiteren verfolgten Mitmenschen, so etwa in den letzten Monaten des NS-Regimes einer inhaftierten jüdischen Mutter und ihrem jugendlichen Sohn, der in der rassistischen Weltsicht des NS-Regimes als so genannter „Halbjude“ galt: Lydia Forsström überbrachte mehrere Nachrichten zwischen Mutter und Sohn bzw. zwischen Sohn und Mutter, damit beide miteinander in Kontakt blieben.

Die Informationen zu ihrem weiteren Lebensweg sind sehr, sehr spärlich: Lydia Forsström lebte nach dem Ende des nationalsozialistischen Deutschen Reiches und des II. Weltkrieges zuerst in Schweden. Sie verbrachte ihren Lebensabend jedoch, wie in den ersten Textzeilen geschildert, im niedersächsischen Bergen - und damit in jener kleinen Stadt, in der einst ihr Vater im Jahr 1940 eine Anstellung als Prokurist gefunden hatte und in der seitdem auch ihre Schwester lebte. Die Helferin in der Not wurde im Jahr 1980 und damit noch zu Lebzeiten als „Gerechte unter den Völkern“ anerkannt - und Lydia Forsström verstarb schließlich in greisem Alter, nachdem sie zuvor mehrere Jahre lang in einem Pflegeheim gewohnt hatte.

Elisabeth Abegg überlebte den Naziterror ebenfalls - und dies um viele, viele Jahre. Die Quäkerin wurde in Berlin für ihr mutiges, segensreiches Wirken im Kampf gegen den Naziterror posthum auch mit einer Gedenktafel am Tempelhofer Damm 56 im gleichnamigen Stadtteil ausgezeichnet - und damit an ihrem einstigen Wohnhaus, in dem sie ihren Widerstand organisiert und bis kurz vor ihrem Tode gelebt hatte.

Lydia Forsström nach 1945: Fallbeispiel des ausgebliebenen Gedenkens
Erinnerungen an oder Ehrenzeichen für Lydia Forsström jedoch fehlen in Berlin bis heute - und der einstige Standort ihres Wohnhauses in der Luisenstraße ist lediglich aufgrund alter Straßenverzeichnisse sehr genau zu bestimmen. Die Hausnummer 67 ist zum Beispiel auf dem „Grieben-Stadtplan Berlin“ aus dem Jahr 1939 direkt am Robert-Koch-Platz verzeichnet, der seinen Namen bereits zu dieser Zeit trug. Das Straßenbild auch der Luisenstraße hat sich, wie in Berlin-Mitte ganz typisch, in den folgenden Jahrzehnten immer wieder sehr verändert.


Hochhaus an Hochhaus bzw. Glasfassade an Glasfassade reiht sich heute auf dem Campus der Charité - und wer die Luisenstraße zwischen den zentralen Liegenschaften des so traditionsreichen Universitätsklinikums durchquert, möge zumindest einen Moment lang innehalten und jener so mutigen Widerstandskämpferin gedenken, die mit ihrer Hilfe hier einst dazu beitrug, dass mehrere Mitmenschen dem NS-Regime lebend entkommen konnten.

Nicolas Basse M. A. - Berlin, im Januar 2023

Literatur
Bierschwale, Peter: Stille Heldin: Wer kannte Lydia Forsström?, in: „Cellesche Zeitung“ (CZ), Ausgabe vom 28. Mai 2010.

Fraenkel, Daniel / Borut, Jakob (Hgg.): Lexikon der Gerechten unter den Völkern - Deutsche und Österreicher, Göttingen 2005.
Quellen online bzw. auf Websites
Website https://righteous.yadvashem.org/, Datenbank der „Gerechten unter den Völkern“ der Gedenkstätte „Yad Vashem“: Einträge zu Lydia Forsström und zu Elisabeth Abegg.

Website https://berliner-stadtplansammlung.de für den „Grieben-Stadtplan Berlin“ aus dem Jahr 1939 (vgl. Text).

Ruthild Hahne - Bildhauerin im Widerstand

Ruthild Hahne - Bildhauerin im Widerstand

Die Inschrift auf der Gedenktafel zu ihren Ehren weist einen denkbar knappen Wortlaut auf. "Hier lebte und arbeitete die Bildhauerin Ruthild Hahne (19. 12. 1910 - 01. 09. 2001)", ist vor dem Haus Nr. 1 in der heutigen Beatrice-Zweig-Straße zu lesen - und damit am einstigen Atelier der besagten Künstlerin im Stadtteil Niederschönhausen von Berlin. Ruthild Hahne lebte seit dem Jahr 1953 in Ost-Berlin in der damals neu geschaffenen Straße 201, die erst im Herbst des Jahres 2014 in Beatrice-Zweig-Straße umbenannt wurde und die sich nahe dem östlichen Parkrand der Schönholzer Heide befindet.

Leben im Umbruch zwischen Westen und Osten
Sie war in den 50er Jahren (noch) eine West-Berlinerin mit westdeutschen Personaldokumenten, wie ihr Sohn selbst lange Jahre nach ihrem Tod betonte. Sie wurde nach ihrem Umzug aber eine der bekanntesten Bildhauerinnen der noch jungen DDR - und insbesondere ein sozialistischer Staatsauftrag sollte ihr Schaffen bis in die Mitte der 60er Jahre bestimmen. Ruthild Hahne arbeitete gemeinsam mit einem künstlerischen "Kollektiv" für lange Jahre an einem Monumentalkunstwerk von Ernst Thälmann (* 1886, † 1944). Die Plastik des einstigen Kommunistenführers sollte nicht weniger als volle sechs Meter vom Erdboden aus emporragen, hinter der Statue sollten zwei Menschenmengen zusammenströmen - und errichtet bzw. eingeweiht wurde sie nie.

Die Kunstgeschichte und die biographische Literatur haben zu allen Zeiten insbesondere auf ihre markanten Portraitbildnisse mehrerer führender Kommunisten und auf ihre verschiedenen Einzelausstellungen sowie zahlreiche Ausstellungsbeteiligungen unter dem SED-Regime gesehen - und dies zu Recht, wobei aber auch der vorherige Lebensabschnitt sehr eingehende Aufmerksamkeit verdient. Ruthild Hahne war, wie in den heutigen Ausstellungsräumen ihres einstigen Ateliers mit wenigen Worten dokumentiert ist, nicht nur eine erfolgreiche Bildhauerin in der DDR, sondern zuvor auch Widerstandskämpferin gegen das NS-Regime.

Kommunistin mit großbürgerlicher Herkunft
Die Rekonstruktion ihres Lebensweges in der NS-Zeit führt (weitab des besagten einstigen Ateliers nahe der Schönholzer Heide) in den Stadtteil Wilmersdorf im westlichen Berlin, denn hier lebte Ruthild Hahne in der Nachodstraße 20 - etwa eineinhalb Kilometer südlich vom Kurfürstendamm und damit sehr zentral in der damaligen Reichshauptstadt. Der Lebensweg wirkt in politischer Hinsicht seit früher Zeit durchaus geradlinig: Ruthild Hahne gewann schon als junge Frau ihre ersten Kontakte zur KPD und zur Arbeiterbewegung und ging als überzeugte Kommunistin schließlich auch in den Widerstand gegen den Naziterror. Die Betrachtung dieser politischen Grundüberzeugung muss mit Blick auf ihre Herkunft bzw. auf ihre Familiengeschichte in den vorangegangenen Generationen gleichwohl erstaunen: Die Tochter einer vermögenden Kaufmannsfamilie war auf großbürgerlichem Grundbesitz im brandenburgischen Schmöckwitz aufgewachsen, das im Jahr 1920 in das damalige "Groß-Berlin" bzw. in den Bezirk Köpenick eingemeindet wurde. Das Leben mit verschiedenen Bediensteten in der elterlichen Villa prägte ihre Kindheit ebenso wie beispielsweise eine Italienreise im Jahr 1920, die zu einer lebenslangen Leidenschaft für die südeuropäische Kulturnation der "bellezza" führte. Ruthild Hahne erlernte in späterer Zeit die italienische Sprache - und ca. 25 Reisen führten sie alleine nach Capri.

Sie absolvierte nach ihrer Schulzeit eine Ausbildung zur orthopädischen Gymnastik- und Turnlehrerin - und der Ausdruckstanz wurde zu derselben Zeit ihre erste Leidenschaft als Künstlerin, gipfelnd im
Jahr 1933 in ihrer Teilnahme für die Gruppe "Rote Tänzer" an der kommunistischen "1. Revolutionären Theaterolympiade" in Moskau. Bildhauerei studierte sie ab dem Jahr 1936 an der "Hochschule der Bildenden Künste" in Berlin. Der Weg führte sie im Jahr 1940 erneut nach Italien, diesmal als studierende Stipendiatin - und zu einer Zeit, da durch Kontakte zu verschiedenen Kommilitoninnen und Kommilitonen bereits ein oppositioneller Kreis gegen das NS-Regime entstanden war. Die Gruppe, der seit dem Jahr 1938 auch Ruthild Hahne angehörte, wurde zu jenem weltanschaulich sehr vielfältigen Widerstandsnetzwerk gezählt, das die Geheime Staatspolizei des NS-Regimes in ihrer jahrelangen Fahndungsarbeit als "Rote Kapelle" bezeichnete.

"Die innere Front"
Die Liebe und schließlich auch die Beziehung zu Wolfgang Thiess (* 1911, † 1943) fielen in diese Zeit: Der Kommunist war insbesondere bei der illegalen Zeitschrift "Die innere Front" für die wirtschaftspolitischen Nachrichten verantwortlich - und in diesem Zusammenhang führt die Suche nach den (wenigen nachweisbaren) Spuren des Lebensweges von Ruthild Hahne zu ihrem schon genannten Wohnort in Wilmersdorf: Die Zeitschrift, die seit dem Jahr 1941 im widerständigen Untergrund bestand, wurde auch in der Wohnung von Ruthild Hahne in der Nachodstraße 20 geplant, wo es zu redaktionellen Besprechungen kam. Die Bildhauerin selbst arbeitete an der "Inneren Front" ebenfalls mit und pflegte zudem sehr enge Kontakte zu verschiedenen Mitgliedern der "Roten Kapelle".


Die Widerstandsgruppe, der sie angehörte, wurde im Herbst 1942 vom NS-Regime zerschlagen, was schließlich auch Wolfgang Thiess das Leben kostete. Der Widerstandskämpfer wurde von der NS-Unrechtsjustiz zum Tode verurteilt und am 9. September 1943 durch den Strang ermordet - in den so
genannten "Blutnächten von Plötzensee", in denen das NS-Regime im Stadtteil Charlottenburg von
Berlin innerhalb sehr kurzer Zeit mehr als 250 Strafgefangene tötete. Die sehr feste Verbundenheit zu Ruthild Hahne blieb bis zuletzt: "Schlaf gut, Ruthild, liebe kleine Frau und guter Kamerad", schrieb Wolfgang Thiess im letzten Brief an seine Lebensgefährtin.

Die Bildhauerin wiederum war zu einer vierjährigen Freiheitsstrafe verurteilt worden, bei der sie im Frauengefängnis Cottbus inhaftiert wurde und aus der sie in den letzten Monaten des II. Weltkrieges entkommen konnte. Sie gelangte auf der Flucht an eine schon nahe Frontlinie, auf der sich die "Rote Armee" auf dem Vormarsch befand - und die Nachkriegszeit brachte auch für sie einen Neuanfang in vielfacher Hinsicht. Ruthild Hahne war im damaligen Ost-Berlin (und noch vor Staatsgründung der DDR) am Aufbau der "Hochschule für Angewandte Kunst" beteiligt, an der sie für mehrere Jahre auch als Dozentin wirkte. Die Künstlerin wurde zudem Mitglied der KPD (1945) bzw. Mitglied der SED (1946) - und ihr weiteres Wirken als freie Bildhauerin stand schließlich für lange Zeit ganz im Zeichen auch des sozialistischen Regimes in der DDR, beispielsweise als Vorstandsmitglied des "Verbandes Bildender Künstler" (ab 1947) oder als Vorstandsmitglied des "Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes" (ab 1964).

Die Bruchstücke eines Lebensweges
Der Essay erfordert bei eingehender biographischer Betrachtung deshalb zum Abschluss noch einen kurzen Blick auf die Geschichte ihrer Bildhauerei in der DDR. Die Ernst-Thälmann-Statue, an der sie - wie bereits geschildert - seit langen Jahren gearbeitet hatte, brach im Februar 1963 in demselben Moment zusammen und auseinander, da ein tragender Balken, auf dem der überlebensgroße Kommunistenführer zuvor stand, zu viel Feuchtigkeit aufgenommen hatte und nach und nach brüchig geworden war. Der Plan für die kommunistische Monumentalplastik wurde im Jahr 1965 schließlich aufgegeben - weil der für das Denkmal vorgesehene, zentrale Standort in Ost-Berlin seit dem Bau der Berliner Mauer im Todesstreifen des SED-Regimes lag und weil der Stil, den Ruthild Hahne mit ihrer Kunst gepflegt hatte, nicht mehr in die neue Zeit zu passen schien.


Das Gedenken mit Blick auf die Bildhauerin blieb ebenfalls unvollendet bzw. gleichsam ein Bruchstück, denn eine Ehrung in der Nachodstraße 20 oder eine etwaige andere, eingehende Erinnerung an ihre widerständige Zeit unter dem Naziterror gibt es im hauptstädtischen Straßenbild bis heute nicht - und so besteht in Berlin auch zum Lebensweg von Ruthild Hahne eine sehr deutliche Leerstelle. Das Leben und der antifaschistische Kampf der Bildhauerin vor ihrem vielfältigen Wirken für das SED-Regime sind weithin unsichtbar geblieben, im Gegensatz zu den Lebenswegen vieler anderer Widerstandskämpferinnen und Widerstandskämpfer der "Roten Kapelle".

Nicolas Basse M. A. - Berlin, im Februar 2024

Literatur
Eitze, Stefan / Grunert, Stefan / Hahne, Stefan: Unter Bäumen regnet es länger - Über Leben und
Werk der Bildhauerin Ruthild Hahne
, Berlin 2016.

Fidorra, Jörg / Müller, Katrin Bettina: Ruthild Hahne - Geschichte einer Bildhauerin, Berlin 1995.

Roloff, Stefan: Die Rote Kapelle, Berlin 2002.
Quellen online bzw. auf Websites
Haselberger, Stephan: „Ruthild Hahne - Ernst beiseite“, in: "Der Tagesspiegel", online
erschienen am 2. September 2013.

Paula Hülle - Widerstand einer vermögenden Witwe

Paula Hülle - Zigarren, Widerstand und lebensrettende Hilfe

Die Verbundenheit der beiden Frauen erwies sich als nach wie vor sehr, sehr fest - auch nach langen Jahren, in denen sie sich nie wiedergesehen hatten, und auch aus der Distanz mehrerer tausend Kilometer, die zwischen ihnen lagen.

1969: Jutta Schäfer lebt in den USA. Paula Hülle lebt in der DDR. Sie haben seit langer Zeit nichts mehr voneinander vernommen. Frau Schäfer aber nimmt nun Kontakt auf, denn Frau Hülle rettete ihr unter dem Naziterror einst das Leben - und ihre Geschichte aus der NS-Zeit führt in die Rigaer Straße 103 in Berlin-Friedrichshain, wo alles begann.


Tabakwaren - und Widerstand gegen die Nazis
Die 30er Jahre in der damaligen Reichshauptstadt waren auf vielfache Weise eine wechselvolle und schwere Zeit. Paula Hülle (* 1903, † 1992), geb. Katsch, lebte damals verwitwet, zugleich aber recht wohlhabend im östlich gelegenen Stadtteil Friedrichshain. Sie besaß einen gut gehenden Tabakwarenladen in der Rigaer Straße 103 - und sie kämpfte gegen das NS-Regime. Sie unterstützte mehrere miteinander verwandte Familien, die jüdisch waren oder jüdische Wurzeln hatten und sich in nationalsozialistischer Zeit durchschlugen, dabei in ihrem Alltag schließlich auch bedroht von der Deportation in ein KZ. Die Helferin in der Not beschaffte nicht nur Lebensmittel und Geld. Sie zweigte für den Personenkreis, dem sie im Verborgenen zur Seite stand, aus ihrem Ladenbestand immer wieder auch Tabakwaren ab, die von ihren Schützlingen „unter der Hand“ verkauft werden konnten - zu Schwarzmarktpreisen. Die Hilfe, zu der sie sich entschlossen hatte, war in der rassistischen Weltsicht des NS-Regimes (natürlich) gesetzlich strikt verboten und erfüllte den damaligen Straftatbestand der so genannten „Judenbegünstigung“ - und Paula Hülle wusste, dass sie ihr Leben riskierte.


Die Namen zweier Jugendfreundinnen, denen sie unter dem Naziterror von Anfang an half, sind bis heute belegt: Charlotte Schäfer (* 1907, Sterbejahr unbekannt) und Margot Schwersinski (* 1908, Sterbejahr unbekannt) - und die bereits genannte Jutta Schäfer (* 1929, Sterbejahr unbekannt) war deren Tochter bzw. deren Nichte.

Bestechung, um Menschenleben zu retten
Die bereits beschriebene Hilfe zu leisten, erwies sich im Laufe der 30er Jahre und in späterer Zeit aufgrund der stark gestiegenen Zahl an antisemitischen Gesetzen und Verordnungen durch das NS-Regime und der schließlich einsetzenden systematischen Deportationen als immer schwieriger. Paula Hülle, die nie aufgab, entschloss sich nach den rassistischen Pogromen im November 1938 dazu, einen ihrer Kunden in alles, was sie tat, einzuweihen und bat ihn zudem um seine Hilfe. Der Mann hieß Karl Bratzke (* 1866, † 1946) und besaß ebenfalls einen Tabakwarenladen, der sich in der Grünberger Straße befand - und damit ebenfalls im Stadtteil Friedrichshain, südlich vom Frankfurter Tor und nur einen kurzen Fußweg entfernt von dem Laden, den wiederum die mit ihm bekannte Widerstandskämpferin führte. Sie vertraute ihm, war sich zugleich aber der sehr, sehr konkreten Gefahr bewusst, die damit verbunden war, ihm von ihren Taten für Charlotte Schäfer und für Margot Schwersinski sowie deren Familien und auch für andere Mitmenschen zu berichten: Der Mann war Ortsgruppenleiter der NSDAP.

Die Bestechung dieses stramm überzeugten Nationalsozialisten erwies sich seit dem Herbst 1938 immer wieder als entscheidende Hilfe. Woche für Woche ließ die unermüdliche Paula Hülle ihm Geld zukommen - und sie gewährte ihm zudem weitere Vergünstigungen, um alle Personen, denen sie half, auch weiterhin beschützen zu können. Karl Bratzke verzichtete im Gegenzug für mehrere Jahre darauf, wiederholten Denunziationen etwa aus der Nachbarschaft nachzugehen, und warnte Paula Hülle zudem vor bevorstehenden Deportationen - so zumindest sagte der Nazi nach dem Ende des NS-Regimes aus, als er zu seiner Parteilaufbahn in der NSDAP vernommen wurde.

Deportation nach Theresienstadt - Flucht aus Berlin
Die Wege von Charlotte Schäfer und von Margot Schwersinski trennten sich schließlich. Frau Schwersinski und ihre Familienangehörigen befolgten im Juni 1942 den gegen sie ausgesprochenen Deportationsbefehl - und dies, obwohl Paula Hülle sie inniglich darum bat, in Berlin „unterzutauchen“, wozu sie bereits ein Versteck vorbereitet hatte. (Das Grauen, das nach einer Deportation in den Ghettos und in den Konzentrationslagern des NS-Regimes wartete, war der jüdischen Bevölkerung bis zu dieser Zeit noch weithin verborgen geblieben.) Paula Hülle setzte gleichwohl ihre Hilfe fort und ließ ihrer deportierten Freundin und deren Familie immer wieder Lebensmittel in das Ghetto Theresienstadt zukommen - bis der Kontakt im September 1944 abbrach.


Charlotte Schäfer und ihre Familie dagegen ließen sich von Frau Hülle schließlich dazu überreden, Berlin am Ende des Jahres 1943 vorerst zu verlassen - und dies bedeutete angesichts immer zahlreicherer Deportationen an der jüdischen Bevölkerung die Rettung. Die Familie kehrte erst im April 1944 in die damalige Reichshauptstadt zurück, nachdem mehrere Monate vergangen waren - und nachdem der schon genannte Karl Bratzke, inzwischen aufgestiegen zum NSDAP-Kreisleiter, mitgeteilt hatte, dass die Lage etwas sicherer als zuvor war. (Das Detail, das mit Blick auf die Familie von Charlotte Schäfer zu berichten bleibt: Sie war mit einem unter dem NS-Regime als „arisch“ kategorisierten Ehemann verheiratet und hatte daher geglaubt, von den Deportationen verschont zu bleiben.)

Spuren - in Chicago, in Jerusalem, nicht aber in Berlin
Details zu den weiteren Lebenswegen sind in nur geringer Zahl bekannt geworden. Paula Hülle lebte in den 60er Jahren in bitterer Armut in der DDR bzw. in Ost-Berlin, als die von ihr einst gerettete Jutta Schäfer sie ausfindig machen konnte - und dies von Chicago aus, wohin sie nach dem Jahr 1945 ausgewandert war, um einen Neuanfang zu wagen. Paula Hülle schaffte es schließlich, aus der DDR der an sie ausgesprochenen Einladung zu folgen. Sie besuchte nun jene Frau in den USA, der sie in deren jugendlicher Zeit unter dem Naziterror das Leben hatte retten können - und Jutta Schäfer setzte sich nach ihrem Wiedersehen dafür ein, dass die so mutige Widerstandskämpferin in Yad Vashem als „Gerechte unter den Völkern“ anerkannt wurde, was am 5. Januar 1971 geschah.

Dankbarkeit wurde der Retterin aus einstiger Zeit schließlich auch auf unvermutete Weise zuteil: Die Jüdische Gemeinde von Chicago übernahm die Kosten für einen Wohnplatz, den Paula Hülle in einer Pflegeeinrichtung erhielt - bis an ihr Lebensende. Sie verbrachte ihren Lebensabend daher dauerhaft in den USA (und dies vermutlich seit dem Jahr 1976) und verstarb im Jahr 1992.

Die Geschichte der Frauen ist geblieben und bis heute bezeugt - dies aber nur in Yad Vashem, nicht in Berlin, wo sie sich zugetragen hatte. Das Haus in der Rigaer Straße, in dem Paula Hülle einst ihren Tabakwarenladen besaß und ihre umfassende Hilfe organisierte, befindet sich nahe dem heutigen Bersarinplatz - und nichts erinnert hier an jene Frau, die einst aus Mitmenschlichkeit in den Widerstand gegen das NS-Regime gegangen war. Schlingpflanzen ziehen sich über die gesamte Hausfassade der mehrgeschossigen Rigaer Straße 103 - ebenso wie diverse Graffiti im Erdgeschoss, in dem sich in einstiger Zeit vermutlich der Laden von Paula Hülle befand.


Der Name eines alternativen Clubs, der heute hier beheimatet ist, befindet sich an der Haustür: „Filmrisz“, geöffnet Tag für Tag ab 20:00 Uhr - und zwar „bis sonstewann“, wie es auf seiner Website im besten hauptstädtischen ‚Slang‘ heißt. (Kino oder Kneipe...? Kneipe oder Kino...? Der „Filmrisz“-Club ist mit seinem programmatischen Namen vermutlich beides.) Die Tatsache aber schmerzt, dass in ihrem heimatlichen Kiez nichts an die auch filmreife, beispiellos mutige Geschichte von Paula Hülle erinnert - und daher bleibt vorerst nur die Hoffnung auf eine angemessene Ehrung, die ihr hier eines Tages hoffentlich zuteil werden wird.

Nicolas Basse M. A. - Berlin, im März 2023

Literatur
Fraenkel, Daniel / Borut, Jakob (Hgg.): Lexikon der Gerechten unter den Völkern - Deutsche und Österreicher, Göttingen 2005.
Quellen online bzw. auf Websites
Website https://righteous.yadvashem.org/, Datenbank der „Gerechten unter den Völkern“ der Gedenkstätte „Yad Vashem“: Eintrag zu Paula Hülle.

Stephanie Hüllenhagen - Hinterhaus, vierter Stock, ein Zimmer, zwei Frauen

Stephanie Hüllenhagen - Hinterhaus, vierter Stock, ein Zimmer, zwei Frauen

„Fanny“ wurde sie genannt - und ihr Lebensweg seit früher Kindheit war für lange Jahre durchaus typisch für ein Mädchen aus dem „roten Wedding“, in dem sie aufwuchs. Stephanie Hüllenhagen (* 1893, † 1967), geb. Kaiser, wurde in eine sozialdemokratisch eingestellte und engagierte Familie hineingeboren - und diese widersetzte sich dem Nationalsozialismus auch nach dem Ende der Weimarer Republik. Sie selbst wurde Parteimitglied der SPD, wie so viele ihrer Verwandten auch in vorangegangenen Zeiten. Wer aber war diese Frau, die entschlossenen Widerstand gegen den Naziterror leistete?

Arbeiterkind, Schneiderin, Sozialdemokratin - und der Spitzname „Fanny“
Der Spaziergang auf der Suche nach Erinnerungen an Stephanie Hüllenhagen führt in Berlin in den Gesundbrunnen nördlich des heutigen Stadtzentrums, seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert und bis in die NS-Zeit vor allem „‘ne Arbeitajejend, wa“ - ebenso wie der direkt benachbarte Wedding. Wir wissen von Stephanie Hüllenhagen, dass sie als Schneiderin arbeitete, sich seit jungen Jahren für die SPD einsetzte und seit dem Jahr 1933 allein in der Bellermannstraße 14 lebte, wo heute bereits seit einigen Jahren eine Gedenktafel auf sie hinweist.


Sie bewohnte eine kleine Einzimmerwohnung im vierten Stockwerk des Hinterhauses - und sie fasste im Jahr 1943 den festen Entschluss, wenigstens einen Mitmenschen vor den immer zahlreicher werdenden, systematischen Deportationen der jüdischen Bevölkerung durch das NS-Regime bei sich zu verstecken. Sie kontaktierte deshalb schließlich Dr. Helene Leroi (geb. 1894, gest. 1950), geb. Fürst, eine Bekannte aus früherer Zeit, mit der sie durch ihr Wirken für die SPD (lose) bekannt war - und diese flüchtete noch im Januar 1943 zu ihr, nachdem sie bereits ihren Deportationsbefehl erhalten hatte. Die Frau war zu diesem Zeitpunkt einen bereits bemerkenswerten Lebensweg gegangen: Helene Leroi, geboren in Hamburg, war zuerst als Lehrerin berufstätig gewesen, hatte danach Politikwissenschaften studiert und war im Jahr 1922 promoviert worden. Sie war zuerst Parteimitglied der KPD gewesen, trat im Jahr 1923 jedoch in die SPD ein. Sie arbeitete danach in den 30er Jahren als Stenotypistin in der „Palästina-Treuhandstelle der Juden in Deutschland“, bis sie vom NS-Regime im Jahr 1939 zur Zwangsarbeit verpflichtet wurde - und diese leistete sie bis zum Jahr 1942.

Die Frauen werden sehr unterschiedlich gewesen sein - hier das zupackende Arbeiterkind, dort die promovierte Politikwissenschaftlerin. Sie lebten nun gleichwohl gemeinsam Tag für Tag auf engstem Wohnraum miteinander - und Stephanie Hüllenhagen half auf vielfache Weise, darin unterstützt von anderen mutigen Mitmenschen. Rosa Sichting (Lebensdaten unbekannt) etwa, eine Nachbarin aus der Bellermannstraße 14, gab ihr gelegentlich Lebensmittel ab, damit Helene Leroi zu essen bekam. Kurt Kaiser (Lebensdaten unbekannt), der Bruder von Stephanie Hüllenhagen, ging mit der geflohenen Jüdin bisweilen spazieren, damit sie ab und zu der Enge in der Bellermannstraße 14 für eine kurze Zeit entgehen konnte - und seine Tochter, die Medizin studierte, versorgte Helene Leroi, als diese an einer Lungenentzündung erkrankt war. Prof. Dr. Fritz Baade (* 1893, † 1974), vermutlich der Vater der nach Großbritannien geflohenen beiden Kinder von Helene Leroi, half zudem aus seinem türkischen Exil, indem er ihr monatlich 100 Reichsmark zukommen ließ - und gemeinsam gelang es, die versteckte Jüdin zu versorgen, so gut es ging.

Rettungstat im Hinterhaus: Zwei Jahre und vier Monate zu zweit in einer Einzimmerwohnung
Das Unterfangen der Rettung war gleichwohl ein einziges Wagnis - und Stephanie Hüllenhagen bezeichnete sich selbst in viel späterer Zeit deshalb einmal als „Seiltänzerin“. Sie schilderte in der Nachkriegszeit, die beiden Frauen hätten sich trotz aller Sorgen gut verstanden und wieder und wieder sogar „köstlich amüsiert“. Sie brachte der von ihr versteckten Jüdin im Laufe der Zeit sogar zu schneidern bei - und die Beziehung der beiden Frauen zueinander ging so weit, dass Helene Leroi bisweilen Kleideranproben mit der Kundschaft von Stephanie Hüllenhagen durchführte, sofern sie einmal abwesend war.

Gefahr drohte insbesondere durch den Ehemann einer benachbarten Hausbewohnerin, der in der SS war - und wenn dieser sich, beispielsweise an Urlaubstagen, in der Bellermannstraße 14 aufhielt, kam Helene Leroi bei Erna und Paul Bothfeld unter, einem mit ihr gut bekannten Ehepaar. Die Lebensdaten dieser beiden Personen sind nicht mehr bekannt. Wir wissen aber, dass sie Helene Leroi schon zu Beginn ihrer innerstädtischen Flucht zeitweise aufgenommen hatten, bevor deren Weg schließlich zu Stephanie Hüllenhagen führte. 


Die Retterin in der Not und der von ihr versteckte Mitmensch verbrachten zwei Jahre und vier Monate miteinander - zumeist auf allerengstem Raum, gezeichnet von vielen Entbehrungen und immer in Angst, bis zum Kriegsende im Mai 1945. Die Hausgemeinschaft in der Bellermannstraße 14 wusste in dieser Zeit genau, wen Stephanie Hüllenhagen in ihrer winzigen Wohnung versteckte: Helene Leroi konnte schon deshalb nicht unbemerkt bleiben, weil aufgrund der wohnlichen Situation im vierten Stock des Hinterhauses lediglich eine Außentoilette benutzt werden konnte. Die Jahre vergingen, Monat für Monat und Woche für Woche und Tag für Tag - aber niemand beging Verrat, vielmehr wurde Helene Leroi sogar bei alliierten Luftangriffen in die Kellerräume des Hauses mit hineingelassen. Die Erinnerungen von Stephanie Hüllenhagen wirken in dieser Hinsicht fast ein wenig skurril, berichtete sie in der Nachkriegszeit doch, dass Helene Leroi als „Tante Lenchen“ in den Bombennächten die Frauen und die Kinder in der Bellermannstraße 14 beruhigt habe, indem sie Baldrian verteilte und auf diese Weise „bald eine allgemeine Beliebtheit errang.“ Stephanie Hüllenhagen und Helene Leroi überlebten schließlich das NS-Regime.

Nachkriegszeit: Bruch in einer einst festen Bekanntschaft
Das Leben aber blieb hart, unbeschreiblich hart: Das Grauen des II. Weltkrieges traf auch Stephanie Hüllenhagen, die mehrfach von Soldaten der Roten Armee vergewaltigt wurde. Die Wendungen der deutschen Zeitgeschichte führten zudem bald zum Bruch zwischen ihr und der von ihr versteckten Helene Leroi, die nach dem Kriegsende zuerst ihre beiden Kinder besucht hatte, die einst mit einem Kindertransport aus dem nationalsozialistischen Deutschen Reich entkommen waren. Sie kehrte bald wieder und lebte fortan erneut in Berlin. Die Frauen jedoch sahen sich nach 1945 nur noch selten - und als sich Helene Leroi für die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED, gegr. 1946) einzusetzen begann, wandten sie sich voneinander ab. Stephanie Hüllenhagen brachte kein Verständnis für die politische Weltsicht des Mitmenschen auf, für den sie zuvor ihr Leben riskiert hatte. Kommunismus gegen Sozialdemokratie, Sozialdemokratie gegen Kommunismus, auch diese vorerst überwunden geglaubten Gegensätze aus viel früherer Zeit bestimmten die deutsche Nachkriegsgeschichte und spiegelten sich in der Geschichte der beiden Frauen.

Ehrungen zu Lebzeiten und posthum
Helene Leroi verstarb bereits im Jahr 1950. Stephanie Hüllenhagen lebte weiterhin in der Bellermannstraße 14, bis zu ihrem Tod im Jahr 1967. Sie wurde wenige Jahre zuvor, genauer gesagt: im Jahr 1962, durch die „Unbesungene Helden“-Initiative der Jüdischen Gemeinde und im Senats des damaligen West-Berlin geehrt. Die Anerkennung als „Gerechte unter den Völkern“ in Yad Vashem erfolgte posthum im Jahr 2001. Die Gedenktafel, auf der ihre Rettungstat in der Bellermannstraße 14 dokumentiert ist, gibt es vor Ort seit dem Jahr 2003.


Die Erinnerung an Stephanie Hüllenhagen ist also geblieben und auch heute im Stadtteil Gesundbrunnen bezeugt - und am Ende sei aus einem Brief zitiert, den sie nach dem Jahr 1945 an ihre ausgewanderte Schwester in New York schrieb und in dem sie ihren Widerstand gegen das NS-Regime verdeutlichte: „Ich dachte immer: du bist mitschuldig, wenn du das alles geschehen läßt.“

Nicolas Basse M. A. - Berlin, im Januar 2023

Literatur
Fraenkel, Daniel / Borut, Jakob (Hgg.): Lexikon der Gerechten unter den Völkern - Deutsche und Österreicher, Göttingen 2005.

Sandvoß, Hans-Rainer: Widerstand in Wedding und Gesundbrunnen, Berlin 2003.

Schwab, Waltraud: Lichtblick im Schattenspiel der Geschichte, in „Frankfurter Rundschau“ (FR), Ausgabe vom 3. November 2001, online eingestellt auf der Website der „Historischen Gesellschaft Eschborn e. V.“.
Quellen online bzw. auf Websites
Website https://www.gedenktafeln-in-berlin.de der Gedenkstätte Deutscher Widerstand und des Vereins „Aktives Museum Faschismus und Widerstand in Berlin“ und von Holger Hübner: Eintrag zur Gedenktafel zu Ehren von Stephanie Hüllenhagen

Website https://righteous.yadvashem.org/, Datenbank der „Gerechten unter den Völkern“ der Gedenkstätte „Yad Vashem“: Eintrag zu Stephanie Hüllenhagen.

Frieda Kahle - Rettungstat ab dem 9. November 1938: „Kommt mit!“

Frieda Kahle - Rettungstat ab dem 9. November 1938: „Kommt mit!“

Die Drahtverarbeitungsfabrik, deren Mitbesitzerin sie war, befand sich im Norden von Berlin, genauer gesagt: in der Graunstraße 14 - und damit im Brunnenviertel, einer traditionsreichen, durchaus rauen "Arbeitajejend, wa". Frieda Kahle (Lebensdaten unbekannt) lebte für lange Jahre in dem genannten Kiez in der Swinemünder Straße 65 - gemeinsam mit ihrem gelähmten Ehemann. Die Metallwaren, die in ihrer nahegelegenen Fabrik gefertigt wurden, erwiesen sich gerade in den Jahren des II. Weltkrieges als besonders wertvoll, konnten sie doch in Berlin und im brandenburgischen Umland gegen Eier, gegen Milch, gegen Butter oder auch gegen ebenfalls immer seltener zu erwerbende Fleischwaren eingetauscht werden. Nägel, die beinahe Gold wert waren - so kann die Bedeutung der in der besagten Fabrik hergestellten, metallenen "Schätze" zusammengefasst werden. Frieda Kahle bewirtschaftete die kleine Fabrik auch in wirtschaftlich harten Zeiten erfolgreich - und die Geschichte ihres Lebensweges ist in mehrfacher Hinsicht von besonderer Bedeutung, denn sie war nicht nur eine treusorgende Ehegattin und eine findige Geschäftsfrau, sondern vor allem Widerstandskämpferin gegen das NS-Regime.

Ein Seitenblick in der Dunkelheit
Frieda Kahle ist weithin unbekannt geblieben, doch lässt sich in verschiedenen Details eine Rettungstat rekonstruieren, die sie ab dem Herbst 1938 vollbrachte - mit unfassbarer Tatkraft. Sie ging im gerade genannten Jahr am Abend des 9. November vom Bahnhof "Gesundbrunnen" aus nach Hause, dabei zutiefst angewidert von dem blanken, antisemitischen Hass, der in der damaligen Reichshauptstadt mit ungehemmter Gewalt tobte - johlend, plündernd, brandschatzend, mordend. Die Pogrome, zu denen das schon lange und fest etablierte NS-Regime gezielt und nach eingehender Vorbereitung aufgehetzt hatte, überzogen die jüdische Bevölkerung im gesamten Deutschen Reich mit unfassbarer Gewalt - insbesondere in den Abendstunden des 9. November 1938 und in der folgenden Nacht.


Die Pogrome und der immer weiter zunehmende, antisemitische Hass veränderten alles, auch für Frieda Kahle. Sie strebte an dem besagten Abend vom Bahnhof "Gesundbrunnen" eilends ihrer nahen Wohnung entgegen, jedoch ereignete sich in der südlich von den dortigen Eisenbahngleisen gelegenen, dunklen Ramlerstraße jene unerwartete Begegnung, die ihr gesamtes Leben in den folgenden Jahren bestimmen sollte. Frieda Kahle bemerkte auf ihrem Heimweg bei einem Seitenblick eine vierköpfige Familie, die lautlos an einer dunklen Hauswand sich zu verstecken versuchte: Elsa und Hans Bergmann, ein jüdisches Elternpaar, und deren beiden Söhne, die sechs und zwei Jahre jung waren, Sascha und Max. Die Kinder weinten und klammerten sich an ihre Eltern - und in deren Augen spiegelte sich tiefe Angst. Frieda Kahle begriff sofort die Lage der Familie und sagte nach einem sehr kurzen Moment nicht mehr als: "Kommt mit!" Familie Bergmann, die zuvor bereits mitangesehen hatte, wie ihr Nachbar totgeschlagen worden war, folgte der ihr unbekannten Frau nun auf Schleichwegen über mehrere dunkle Hinterhöfe bis in das mehrgeschossige Mietshaus in der Swinemünder Straße 65 - Schritt für Schritt und in der gebotenen Vorsicht. Die Helferin in der Not bot ihre Wohnung sodann als Versteck an - in der Erwartung, dass sich der Naziterror bald beruhigen werde. Frieda Kahle nahm dabei den Unwillen ihres gelähmten Ehemannes hin, der auf einen Rollstuhl angewiesen war und den sie pflegte. Sascha Bergman berichtete in viel späterer Zeit einmal, er habe sich in der besagten Nacht vorgestellt, wie seine Familie dem Naziterror entkomme könne - und zwar durch ein großes Schiff, das mit vollen Segeln rasch Fahrt aufnimmt.

Swinemünder Straße 65: Versteck von 1938 bis 1945
Der Plan jedoch, die jüdische Familie lediglich für kurze Zeit aufzunehmen, veränderte sich. Der Pogrom dauerte an, weiterhin zersplitterten die Fensterscheiben zahlloser ausgeraubter jüdischer Läden, weiterhin wurden Jüdinnen und Juden in ihren Wohnungen und in ihren Häusern überfallen, weiterhin wurden Synagogen angegriffen und gezielt niedergebrannt - im gesamten Deutschen Reich. Stunde um Stunde verging bis zum folgenden Morgen auch für Familie Bergmann und für das Ehepaar Kahle in der Swinemünder Straße 65, bestimmt von entsetzter Fassungslosigkeit über die Pogromnacht - und aus Stunden wurden Tage, aus Tagen wurden Monate, aus Monaten wurden Jahre, genauer gesagt: mehr als sechseinhalb Jahre. Frieda Kahle versteckte und versorgte die von ihr spontan aufgenommene jüdische Familie, der sie nie zuvor begegnet war, schließlich bis zum Ende des NS- Regimes bzw. des II. Weltkrieges im Mai 1945.

Die mit ihrer Rettungstat verbundenen, zahlreichen Herausforderungen verlangten nicht nur beispiellosen Mut, sondern immer wieder auch neuen Einfallsreichtum. Sascha und Max, die Söhne der Familie Bergmann, wurden von Frieda Kahle als Pflegekinder ausgegeben - was unter den Nachbarinnen und Nachbarn plausibel erschien, da sie Pflegekinder bereits in der Vergangenheit zu verschiedenen Gelegenheiten bei sich in Obhut genommen hatte. Elsa Bergmann blondierte sich zudem mit Wasserstoffperoxyd die Haare, um ganz dem Erscheinungsbild einer so genannten "arischen" Frau zu entsprechen - wie im rassistischen Weltbild des NS-Regimes propagiert. Der Argwohn des verantwortlichen "Blockwarts" gegenüber der ihm unbekannten Familie, der er gelegentlich begegnete, legte sich durch die beschriebenen und weitere Maßnahmen nach kurzer Zeit. Die Söhne der versteckten Familie begannen als vermeintliche Pflegekinder alsbald, an manchen Tagen sogar im Hinterhof des Mietshauses zu spielen - wobei Frieda Kahle sie immer fest im Blick behielt. Die Abstellkammer der Wohnung jedoch war der Raum, in dem Familie Bergmann die meiste Zeit zu verbringen gezwungen war - gut versteckt vor Zufallsbegegnungen und vor neugierigen Blicken.


Tag für Tag pflegte die zupackende Frau zudem ihren Ehemann, der sich schließlich mit der neuen Lage einverstanden erklärte und seinen zuerst empfundenen Unwillen gegenüber der jüdischen Familie zu überwinden wusste. Die Versorgung der versteckten Familie, ihres gelähmten Ehemannes und ihrer selbst gelang Frieda Kahle insbesondere als Mitbesitzerin der schon genannten Drahtverarbeitungsfabrik im Brunnenviertel, deren Metallprodukte eine immer begehrtere Tauschware wurden - so etwa Nägel, Siebe, Drahtbürsten und weitere Waren bis hin zu ganzen Zäunen. Die Fabrik befand sich im Besitz eines Onkels von Frieda Kahle - und sie wiederum unternahm zahllose Versorgungsfahrten, um Lebensmittel zu beschaffen. Die Widerstandskämpferin wurde dabei treu unterstützt von Paul Klinger (* 1907, † 1971), der als Schauspieler seit den 30er Jahren bei sehr renommierten Filmgesellschaften (u. a. der UFA) unter Vertrag stand, der ebenso beliebt wie erfolgreich und zudem mit Frieda Kahle gut bekannt war - und der ein Automobil besaß. Die Retterin in der Not und er waren damit für mehrere Jahre immer wieder durch die gesamte Reichshauptstadt und durch das brandenburgische Umland unterwegs, Kilometer um Kilometer, Stunde um Stunde und stets in der gebotenen Geduld.

Die Jahre vergingen - nach und nach und bestimmt von immer neuen Ungewissheiten, von vielen verschiedenen Entbehrungen und auch von tiefer Angst, aber immer in fester Verbundenheit. Sascha und Max, die beiden heranwachsenden Bergmann-Brüder, wurden bei alliierten Luftangriffen von Frieda Kahle in den Luftschutzkeller mitgenommen - ebenso wie in der Endphase des II. Weltkrieges dann auch ihre Eltern. Frieda Kahle verstand sich zudem in allen Lebenslagen darauf, sehr beherzt zuzupacken - und das harte Leben zwischen Kammer und Hinterhof, zwischen Hinterhof und Kammer in der Swinemünder Straße 65 neigte sich auch für Familie Bergmann dem herbeigesehnten Ende entgegen, als das NS-Regime zusammenzubrechen begann und schließlich in der Schlacht um Berlin besiegt wurde.

Tod von Hans Bergmann, Exil seiner Familie
Das Kriegsende im Mai 1945 jedoch brachte eine unbeschreiblich harte Wendung: Hans Bergmann verließ einen Luftschutzkeller, als die Gefechtshandlungen in der damaligen Reichshauptstadt beendet schienen - und in den letzten Momenten der Schlacht um Berlin fiel noch ein Schuss, dessen verirrte Gewehrkugel ihn am Kopf traf. Der zuvor "untergetauchte" Ehemann und Vater, der sich des Endes der letzten Weltkriegsschlacht auf deutschem Boden hatte vergewissern wollen, brach zusammen und war sofort tot.

Die Verbundenheit der nun verwitweten Mutter und ihrer beiden Kinder zu Frieda Kahle blieb sehr, sehr fest. Elsa Bergmann wanderte mit ihren Söhnen in späterer Zeit gleichwohl nach Brasilien aus, wo beide beruflich tätig wurden - Sascha als Silberschmied, Max als Juwelier. Frieda Kahle wurde im Jahr 1981 mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet, jedoch gibt es in Berlin bis heute keine Gedenktafel für die so mutige Helferin in der Not. Die einstige Widerstandskämpferin berichtete lange nach der NS-Zeit, dass nicht der genannte Orden ihr wertvollster Besitz war, sondern eine Schmiedearbeit, die Sascha Bergmann im brasilianischen Exil für sie angefertigt hatte - ein großes Schiff, das mit vollen Segeln rasch Fahrt aufnimmt.

Nicolas Basse M. A. - Berlin, im Januar 2024

Quellen online bzw. auf Websites
Arcucci, Isabella: "Frieda Kahle rettet jüdische Familie", Feature auf "Bayern 2", ausgestrahlt am 15. Oktober 2012.

Puhlemann, Monika: "Erinnerungen an eine mutige Frau", in: "brunnen - Das Magazin fürs Brunnenviertel", veröffentlicht am 16. Oktober 2021.

Anny und Walter Kreddig - „Gerechte unter den Völkern“, unsichtbar in ihrer Heimat

Anny und Walter Kreddig - „Gerechte unter den Völkern“, unsichtbar in ihrer Heimat

Die unbeleuchtete, dunkle Fensterfront des gesamten Erdgeschosses verriet schon aus einiger Distanz zu dem gesuchten Haus den Leerstand in seinem untersten Stockwerk. Der eingehende Blick, den ich am Ende meines Weges sodann durch die besagten Fensterscheiben werfen konnte, führte in der Tat auf viele hundert Quadratmeter, die gewiss einmal als Gewerbeflächen gedient hatten, auf denen sich mir nun aber nichts als staubige Fußböden, mehrere unverkleidete, erkaltete Heizkörper und ein paar Glasscherben zeigten. Mietwohnungen befanden sich in den darübergelegenen vier Stockwerken, wie zuvor schon ein kurzer Blick auf das Haus ergeben hatte. Die Fassade wies vom ersten Obergeschoss bis zum flachen Dach zudem einen hellblauen Farbton auf, der gleichsam von mehreren gelben Blitzen durchzuckt wurde, weil diese im Stile eines Graffitos die stellenweise schadhafte Hauswand zierten.

Ich war im hauptstädtischen Stadtteil Schöneberg vom Nollendorfplatz aus bis zum soeben beschriebenen Haus in der Frobenstraße 29 spaziert, das sich als unscheinbarer Sozialbau erwies und das sich am nördlichen Straßenende über viele, viele Meter bis zur rechtwinklig angrenzenden Kurfürstenstraße zog. (Das Haus ist so groß, dass es auch die Standorte der einstigen Häuser Nr. 30 und Nr. 31 umfasst, die es in alter Zeit in der Frobenstraße gab, wie ein Vergleich des heutigen Straßenbildes mit alten Stadtplänen gezeigt hatte.) Die Frage, wofür die nunmehr leerstehenden Gewerberäumlichkeiten unter der genannten Adresse im Erdgeschoss zuletzt gedient haben mochten, war nicht mehr zu beantworten, ganz sicher aber hatte es am einstigen Standort des modernen Gebäudekomplexes lange, lange Jahrzehnte zuvor eine Drogerie gegeben - und damit den Arbeitsort eines Ehepaares, das gegen das NS-Regime in den Widerstand gegangen war.

9. November 1938: Ein Telefonat im Pogrom
Das Ehepaar Kreddig, Anny (* 1917, † 2011; geb. Lobback) und Walter (* 1912, † 1969), besaß seit
den 30er Jahren in dem damaligen Mietshaus in der Frobenstraße 31 die besagte Drogerie - und gemeinsam bewiesen die Eheleute unter dem NS-Regime für mehrere Jahre sehr viel Mut und zudem organisatorisches Geschick. Sie versteckten in ihrem Keller von 1938 bis 1943 immer wieder zeitweise einen einstigen jüdischen Handelspartner vor dem Naziterror. Horst Wienskowski (Lebensdaten unbekannt) hatte als Fabrikant in Berlin gelebt und in seinem beruflichen Wirken auch die Drogerie der Eheleute Kreddig beliefert - und daher waren es sie, die er in einer Stunde der tiefsten Verzweiflung anrief. Das Telefonat, das Horst Wienskowski noch führen konnte, als am 9. November 1938 bereits der antisemitische Pogrom in der damaligen Reichshauptstadt tobte, wies ihm den (vorerst) rettenden Weg. Das umgehend ausgesprochene Angebot war eindeutig, als der jüdische Geschäftsmann in blanker Angst um seine Familie und sich selbst mit dem Ehepaar Kreddig sprach: „Kommen Sie sofort mit Ihrer Familie zu uns!“


Horst Wienskowski folgte diesem eilig ausgesprochenen Ruf und lebte fortan mehr als vier Jahre lang im widerständigen Untergrund von Berlin - jedoch getrennt von seiner Familie und oft versteckt bei den mit ihm befreundeten Eheleuten Kreddig, die in dieser Zeit zudem weitere seiner Familienangehörigen mit Lebensmitteln und mit Lebensmittelmarken versorgten. Die entbehrungsreiche, innerstädtische Flucht gelang dem „untergetauchten“ Geschäftsmann, bis er im Februar 1943 von der Gestapo verhaftet wurde. Die Deportation durch das NS-Regime folgte bald danach - und Horst Wienskowski war schließlich einer der sehr wenigen Gefangenen, die das Grauen des KZ Auschwitz überleben konnten, auch weil die Kreddigs ihm aus dem fernen Berlin wieder und wieder Lebensmittelpakete hatten zukommen lassen.

Anerkennung nach langer Zeit - außerhalb von Berlin
Der Weg des einstigen Fabrikanten führte nach dem Ende des NS-Regimes bzw. des II. Weltkrieges in die USA. Horst Wienskowski wanderte aus, nachdem er den Naziterror überlebt hatte - und er setzte sich in späterer Zeit gegenüber Yad Vashem für die Eheleute Kreddig ein, die im September 1984 beide als „Gerechte unter den Völkern“ anerkannt wurden. Anny Kreddig, zu diesem Zeitpunkt schon etwas mehr als 15 Jahre verwitwet, war zudem bereits im Jahr 1983 mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet worden - ebenfalls auf Initiative von Horst Wienskowski, der sich gegenüber seiner Retterin in der Not bis an sein Lebensende von tiefer Dankbarkeit bewegt zeigte.

Die Geschichte des widerständigen Ehepaares und der von ihnen unterstützten jüdischen Familie ist in Deutschland im hauptstädtischen Straßenbild gleichwohl undokumentiert geblieben, in Berlin gibt es auch 40 Jahre nach Anerkennung der Kreddigs durch Yad Vashem keine Gedenktafel oder anderweitige Ehrung. Die Lebenswege der Eheleute sind in ihren Details kaum zu rekonstruieren, belegt ist aber, dass sich beide von den Wertvorstellungen des christlichen Glaubens bzw. dessen evangelischer Konfession leiten ließen. Die Suche nach dem genauen Ort ihrer einst vollbrachten Rettungstat führt, wie in den ersten Zeilen dieses Essays geschildert, nach vielen Jahrzehnten zudem ins Leere - und dies in jeder Hinsicht. Das Haus, in dem sie einst lebten, steht nicht mehr. Die Drogerie, die sie einst besaßen, gibt es nicht mehr - und in der (erhaltenen gebliebenen) Frobenstraße, die sich nahe dem pulsierenden Nollendorfplatz befindet, ist heute auch keine Hausnummer 31 mehr ausgewiesen.

Das am einstigen Wohnort bis heute fehlende Gedenken zu Ehren des Ehepaares Kreddig ist zudem ein musterhaftes Beispiel für den unangemessenen Umgang mit sehr, sehr vielen deutschen „Gerechten unter den Völkern“ in ihrer Heimat. Die Bäume, die in bleibender Erinnerung an ihre Rettungstaten in Yad Vashem gepflanzt wurden, wachsen dort noch immer, doch sind in Deutschland zumeist nicht einmal ihre Namen, geschweige denn ihre Lebenswege besonders bekannt geworden.

Nicolas Basse M. A. - Berlin, im Juli 2024

Literatur
Fraenkel, Daniel / Borut, Jakob (Hgg.): Lexikon der Gerechten unter den Völkern - Deutsche und
Österreicher
, Göttingen 2005.

Wörmann, Heinrich-Wilhelm: Berlin: Widerstand 1933 - 1945. Widerstand in Schöneberg und
Tempelhof
, Berlin 2002.
Quellen online bzw. auf Websites
Website https://righteous.yadvashem.org/, Datenbank der „Gerechten unter den Völkern“ der
Gedenkstätte „Yad Vashem“: Eintrag zum Ehepaar Kreddig.

Ina Lautenschläger - „Rote Kapelle“-Spionin auf dem Laufsteg

Ina Lautenschläger - „Rote Kapelle“-Spionin
auf dem Laufsteg

Die Damen verbrachten miteinander viele Stunden in heiterer Stimmung - plaudernd, lachend und bei erlesenen Liqueuren, vor allem aber mit dem aufmerksamen Blick auf exklusive Garderoben, die ihnen dabei zur Anschauung gebracht wurden. Der Salon von Annemarie Heise, in dem sie sich in den frühen 40er Jahren zu treffen pflegten, war schon seit einigen Jahren eines der vornehmsten Modeateliers in ganz Berlin - abseits der rassistischen Politik ihrer Ehegatten und (noch) fernab aller Schlachtfelder des II. Weltkrieges. Magda Goebbels (* 1901, † 1945) und Emmy Göring (* 1893, † 1973) ließen sich in modischen Stilfragen von der Salonbesitzerin und ihren Models ebenso beraten wie Annelies von Ribbentropp (* 1896, † 1973), deren Ehemann bereits seit dem Jahr 1938 als Reichsaußenminister des NS-Regimes fungierte. Kundinnen des besagten Salons waren zudem die Ehefrauen mehrerer sehr ranghoher Wehrmachtsoffiziere und sogar Eva Braun (* 1912, † 1945), die ausgebildete Fotolaborantin war - und die heimliche Geliebte von Adolf Hitler.

Annemarie Heise: Damenmode mit tiefbraunem „Schatten“
Der Salon befand sich in der damaligen Brückenallee 7 im hauptstädtischen Hansaviertel, nahe dem prachtvollen Schloss Bellevue und dem Großen Tiergarten bzw. an der heutigen Straßengabelung der Bartningallee und des Hanseatenweges - vom S-Bahnhof „Bellevue“ nur wenige Schritte in südwestlicher Himmelsrichtung entfernt. Annemarie Heise kreierte so edle Garderoben, dass sogar Filmstars sehr großen Wert darauf legten, sich von ihr einkleiden zu lassen. Zarah Leander (* 1907, † 1981) und Marika Rökk (* 1913, † 2004) etwa vertrauten in Garderobenfragen auf die genannte Modeschöpferin. Die Schauspielerinnen begeisterten für die Universum Film AG (‚ufa‘) in „Es war eine rauschende Ballnacht“ (1939) auf der Kinoleinwand gemeinsam ein Millionenpublikum - und beide bewiesen gegenüber dem NS-Regime zumindest weitestgehende Aufgeschlossenheit. Sie verkehrten als renommierte Stilikonen zudem ebenso gerne bei Annemarie Heise wie die Ehefrauen der mächtigsten Nationalsozialisten und Eva Braun. Die Salonbesitzerin wiederum verstand sich bestens darauf, mit den von ihr geschaffenen Kleidern immer wieder stilvolle Akzente in der weithin auf optische „Volksgemeinschaft“ bedachten, eher schlichten Mode der NS-Zeit zu setzen. Eva Braun etwa trug bei den Feierlichkeiten zum 54. Geburtstag von Adolf Hitler am 20. April 1943 ein blaues Kleid mit weißen Manschetten, das von Annemarie Heise gestaltet worden war - und ihre Festtagsgarderobe setzte nach dem damaligen „Führergeburtstag“ auf dem „Berghof“ am bayerischen Obersalzberg einen Modetrend und fand in deutschen Wohnstuben schon bald viele, viele selbstgenähte Nachbildungen.


Die Verbundenheit insbesondere zur Geliebten des Diktators reichte bis in die letzten Tage des NS-
Regimes. Annemarie Heise kreierte auch die Hochzeitsgarderobe, in die sich Eva Braun kleidete, als sie Adolf Hitler am 29. April 1945 im so genannten „Führerbunker“ heiratete - am letzten Tag vor dem gemeinsam begangenen Selbstmord des Ehepaares in der Schlacht um Berlin. (Addendum: Sie ist bei kompletter Namensgleichheit nicht mit jener Annemarie Heise (* 1886, † 1937) zu verwechseln, die als expressionistische Malerin bekannt wurde und die sich - anders als die Modeunternehmerin - nie vom NS-Regime vereinnahmen ließ.)

Die Geschichte des Modeateliers von Annemarie Heise verdient aber aus verschiedenen Gründen eine noch eingehendere Betrachtung: Texte und biographische Portraits über ihren Lebensweg gibt es in nur sehr geringer Zahl (und selbst ihre genauen Lebensdaten sind unbekannt), doch findet sich in der entsprechenden dokumentierenden Literatur bisweilen die Vermutung, dass sie jüdische Wurzeln gehabt habe. Der Salon war vor allem aber für den Widerstand gegen das NS-Regime von sehr wesentlicher Bedeutung. Die Damengesellschaften um Magda Goebbels und um Emmy Göring in den Jahren des II. Weltkrieges ahnten nicht einmal, dass sie von einem der Models, denen sie sich anvertrauten, für jenes geheime Netzwerk im Widerstand ausspioniert wurden, das die Gestapo als „Rote Kapelle“ bezeichnete.

„Vorführdame“ und Widerstandskämpferin: Ina Lautenschläger
Sie zierte als Fotomodell in den 30er Jahren sehr zahlreiche Titelseiten - und ihre Arbeit im Salon von Annemarie Heise beschrieb die so erfolgreiche Ina Lautenschläger (* 1917, † 2008) in viel späterer Zeit hinsichtlich der prominentesten Kundinnen mit den folgenden Worten: „Man ließ mich mit ihnen allein. Ich durfte beraten, ich durfte bedienen, unter vier Augen mit ihnen sprechen.“ Details aus diesen sehr zahlreichen Verkaufsgesprächen und begleitenden Plaudereien hatten wiederholt informativen Wert - und dies nicht nur mit Blick auf aktuelle Modetrends, sondern vor allem für die Widerstandsaktionen der „Roten Kapelle“. Die Frage nach dem vorherigen Lebensweg des Models jedoch soll vor der Betrachtung ihrer Spionage gegen das NS-Regime beantwortet werden.

Ina Schreier wuchs als Kind einer einfachen Schneiderin und eines gelernten Bildhauers in Berlin auf. Sie verbrachte die ersten Jahre ihrer Schulzeit in Kreuzberg und in Neukölln, wurde dann jedoch das erste Mädchen an der „Schulfarm Insel Scharfenberg“. Die genannte reformpädagogische Bildungseinrichtung war ein privates Internat, an dem zuvor nur Jungen unterrichtet worden waren. Die Schule befand sich auf der Insel Scharfenberg im idyllischen Tegeler See, ganz im Norden der damaligen Reichshauptstadt. Ina Schreier gewann bereits als Schülerin ihre ersten Kontakte zur kommunistischen Jugend. Sie blieb damit seit frühester Zeit einer politischen Grundüberzeugung treu, die ihr von Kindesbeinen an vertraut war. Erich Schreier, ihr Vater, war nicht nur Mitglied der KPD, sondern hatte auch den „Spartakusbund“ mitbegründet.

Die tief einschneidenden Zwangsmaßnahmen des rasch sich etablierenden NS-Regimes trafen auch ihre Familie schon bald nach dem 30. Januar 1933. Erich Schreier wurde von der SA in seiner eigenen Wohnung überfallen und zusammengeschlagen, zudem wurde er als Angestellter des Kreuzberger Bezirksamtes von den Nazis gezielt aus dem Berufsleben verstoßen. Ina Schreier verlor in der folgenden Zeit ihren Internatsplatz, obwohl ihre schulischen Leistungen sehr gut waren: Die Eltern konnten das zu entrichtende Schulgeld nicht mehr aufbringen - ein harter Schlag, der die gesamte Familie vor neue Herausforderungen stellte. Das Abitur blieb der zuvor so erfolgreichen Schülerin verwehrt und sie begab sich schließlich ohne jeden Schulabschluss auf die Suche nach einem beruflichen Ausbildungsplatz, dies aber in wirtschaftlich harten Zeiten wiederum ohne Erfolg. Der Lebensweg der jungen Ina Schreier verlief deshalb auch in den folgenden Jahren in immer neuen Wendungen. Margarete Hätzel, ihre Mutter, bildete sie schließlich in ihrem eigenen Beruf aus, doch wurde die von Ina Schreier somit absolvierte Ausbildung zur Schneiderin an einer entsprechenden handwerklichen Berufsschule nicht anerkannt: Margarete Hätzel war zur Lehrlingsausbildung nicht befugt. Mutter und Tochter schlugen sich deshalb mit privat angenommenen Auftragsarbeiten durch, bevor Ina Schreier im Jahr 1935 als Akkordarbeiterin in einer Garnfabrik zu arbeiten begann. Sie ging im folgenden Jahr als nach wie vor sehr junge Frau zudem einen wesentlichen Schritt mit Blick auf ihr weiteres Leben: Sie heiratete Hans Lautenschläger (Lebensdaten unbekannt), einen einstigen Schulfreund aus der Zeit an der „Schulfarm Insel Scharfenberg“, wobei sie auch seinen Familiennamen annahm. Die Schilderung ihrer Jugendjahre gebietet es zudem, eine entscheidende Voraussetzung hervorzuheben, die ihr die Chance auf einen unvorhergesehenen beruflichen Neuanfang in der Welt der Medien und der Mode gab: Sie war eine Schönheit.

Aufstieg aus der Fabrikhalle in die Modebranche
Ina Lautenschläger zog durch ihr Antlitz und ihre charismatische Ausstrahlung bereits in der Mitte der 30er Jahre das Interesse eines damaligen Starfotografen auf sich. Hanns Hubmann (* 1910, † 1996) arbeitete für die „Berliner Illustrirte [sic!] Zeitung“, für die er insbesondere die Welt der Politik und des Sports ablichtete. Der Fotojournalist war in seinem Beruf so versiert, dass ihm sogar gestattet wurde, Adolf Hitler bildlich zu portraitieren. Hanns Hubmann begleitete zudem mit Francisco Franco (* 1892, † 1975) und mit Fulgencio Batista (* 1901, † 1973) zwei weitere weltbekannte Diktatoren mit der Kamera, in viel späterer Zeit aber auch Regierungschefs der Bundesrepublik Deutschland - zum Beispiel Willy Brandt (* 1913, † 19912), zum Beispiel Helmut Kohl (* 1930, † 2017), jeweils in ihren Kanzlerjahren. (Hanns Hubmann, „der Mann mit der Leica“, war einer jener Fotografen, die Willy Brandt bei dessen „Kniefall von Warschau“ am 7. Dezember 1970 vor Ort verewigten.)

Die zeitgeschichtliche Bedeutung der „BIZ“ wiederum bestand vor allem darin, dass sie durch ihre innovativen Titelseiten und aufwendig gestaltete, sorgsam bebilderte Aufmacher die deutsche Medienlandschaft seit der vorangegangenen Jahrhundertwende gleichsam revolutioniert hatte: Fotojournalismus als stete Innovation mit immer neuen Motiven. Ina Lautenschläger zierte schließlich eine der besagten Titelseiten der „BIZ“ wie auch anderer illustrierter Zeitschriften. Der dann rasant sich vollziehende Aufstieg des schnell erfolgreichen Fotomodells führte die einstige Fabrikarbeiterin unter dem NS-Regime bis in die obersten Gesellschaftsschichten. Die Auftragung von Lidschatten, Lippenstift und Rouge statt der Herstellung maschinell gefertigten Garns, akribisch einstudierte, elegante Präsentationsposen statt monotoner, handwerklicher Akkordarbeit, Laufsteg statt Fabrikhalle, Blitzlicht statt Stechuhr, exklusive Garderoben statt schlichter Arbeitsbekleidung: Der Kontrast der medialen und der modischen Karriere zum Lebensalltag, den sie hinter sich ließ, war in jeder Hinsicht denkbar tief. Sie bestand als Vorführdame (so der damalige deutschsprachige Begriff für ‚Model‘) mit Bravour auch auf auf dem Parkett sehr zahlreicher Laufstege bei europäischen Modeschauen - und im Widerstand blieb Ina Lautenschläger zu jeder Zeit mit der „Roten Kapelle“ verbunden.

Das wohl bekannteste Portraitfoto aus ihrer Zeit als Model zeigt sie mit dezenter Schminke und kunstvoll drapiertem, leicht lockigen, dunklen Haar sowie bekleidet mit einem dunklen Blazer und mit einer weißen Bluse und zudem in einem Augenblick von tiefer Ruhe. Sie blickt auf dem beschriebenen Bild mit nur leicht angehobenen Augenbrauen in kühler Gelassenheit und in vollendeter Konzentration in die sie ablichtende Kamera.

Die Informationen arglos plaudernder Kundinnen
Die Anstellung im schon beschriebenen Modeatelier von Annemarie Heise war in Berlin ein weiterer wichtiger Karriereschritt und auch für die Salonbesitzerin ein sehr wesentlicher Vorteil. Ina Lautenschläger war nicht nur als besonders stilvolle Vorführdame bekannt, sondern verstand sich - wie geschildert - auch auf das Schneidereihandwerk. Der Blick auf ihre Spionage für die „Rote Kapelle“ wiederum erfordert einen entscheidenden ersten Hinweis auf die gesamte Salonbelegschaft: Die Widerstandskämpferin handelte allein, von ihrem immer gut verborgenen Einsatz gegen das NS-Regime wusste an ihrem Arbeitsplatz niemand - weder andere Models noch Frau Heise als ihre Chefin. Das Modeatelier wiederum lag in Sichtweite des hauptstädtischen S-Bahnhofs „Bellevue“ - und damit in einer sehr ruhigen Gegend der Millionenmetropole.


Ina Lautenschläger pflegte engsten Kontakt zu ihren Kundinnen. Sie war bei ihnen als „die Ina“ beliebt - und ihr geheimer Dienst für die „Rote Kapelle“ erforderte es vor allem, den besagten Damen aufmerksam zuzuhören, wieder und wieder. Die Ehefrauen mehrerer deutscher Offiziere etwa tauschten sich im Salon von Annemarie Heise offen aus - und dies auch über Versetzungen ihrer Ehegatten oder über entsprechende Auslandsreisen. Angriffsziele der „Wehrmacht“ des NS-Regimes ließen sich aus diesen ungezwungenen Gesprächen bisweilen ebenso ableiten wie bevorstehende deutsche Truppenbewegungen, insbesondere an der Ostfront bzw. in der überfallenen stalinistischen UdSSR. Die Informationen, die dem Model auf die beschriebene Weise zugingen, leitete sie immer an
Kontaktleute in der „Roten Kapelle“ weiter - und viele Salongespräche, die Ina Lautenschläger belauschte oder selbst führte, gewannen nach sorgsamer Auswertung eine weitreichende Bedeutung. Der Kommunist Hans Coppi (* 1916, † 1942), mit dem sie seit ihrer Schulzeit bekannt war, und Harro Schulze-Boysen (* 1909, † 1942), der sich als Luftwaffenoffizier gegen den Naziterror engagierte, waren die wichtigsten mit ihr verbündeten Widerstandskämpfer.

Sie sammelte so viele Informationen, wie sie konnte - und das Vertrauen der arglosen, regimetreuen Damen, die sie bediente, blieb ihr erhalten. Ina Lautenschläger berichtete in viel späterer Zeit beispielsweise von einem kurzen Gedankenaustausch mit Eva Braun, in dem sie die Geliebte von Adolf Hitler fragte, warum sie mitten im Sommer 1941 bereits Wintermode zu sehen und zu bestellen wünsche. Die Antwort lautete, dass Moskau am 7. November 1941 von deutschen Truppen eingenommen werden solle - und Eva Braun sah sich bereits nach einer angemessenen Garderobe für die geplante Siegesfeier des NS-Regimesum. Die Siegesfeier fand bekanntlich niemals statt, doch die Offenheit der Kundin gegenüber dem sie scheinbar nur beratenden Model verriet viel über den Zeitplan des geplanten deutschen Vormarsches in der UdSSR. Ina Lautenschläger war zudem als Kurierin für die „Rote Kapelle“ aktiv, da sie nach wie vor auch auf europäischen Modeschauen arbeitete - bis die Gestapo sie verhaftete.

Freiheitsstrafe unter dem NS-Regime, Neuanfang in der SBZ
Die Zerschlagung der „Roten Kapelle“ erfolgte ab September 1942 - und zu diesem Zeitpunkt wurde auch Ina Lautenschläger festgenommen. Das Model wurde im Juli 1943 vom damaligen „Reichskriegsgericht“ in Berlin wegen so genannter „Wehrkraftzersetzung“ zu einer Freiheitsstrafe von sechs Jahren verurteilt. Die NS-Unrechtsjustiz sah es als erwiesen an, dass sie daran beteiligt gewesen war, mehrere regimekritische Flugschriften in Umlauf zu bringen. Die Spionage, für die sie ihren Arbeitsalltag als Vorführdame genutzt hatte, und auch ihr wiederholter Einsatz als Kurierin jedoch blieben bis zuletzt unentdeckt - und ihre Bekanntheit in der Welt der Medien und der Mode mochte sie zudem vor der Todesstrafe bewahrt haben. (Das Urteil, das gegen sie erging, war für die NS-Zeit bemerkenswert milde, zumal hinsichtlich des damaligen Straftatbestandes der „Wehrkraftzersetzung“.)

Sie blieb bis zum Ende des NS-Regimes inhaftiert - und ein weiterer beruflicher Neuanfang gelang ihr bereits in den ersten Wochen der Nachkriegszeit und in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) auf erobertem deutschen Boden, nachdem sie aus ihrer Strafanstalt befreit worden war. Ina Lautenschläger fungierte von Mai 1945 bis zum Sommer 1946 als stellvertretende Bürgermeisterin im sächsischen Brand-Erbisdorf - in dieses kommunalpolitische Amt eingesetzt von der sowjetischen Militärverwaltung. Sie trat danach in den Dienst der „Volkspolizei“, die bereits im Juni 1945 unter strikter Kontrolle der „Sowjetischen Militäradministration in Deutschland“ (SMAD) aufgebaut worden war. Die einstige Widerstandskämpferin nahm in der „Volkspolizei“ in den folgenden Jahren mehrere Positionen an verschiedenen Standorten ein und war als Kriminalpolizistin auch damit beauftragt, für das SED-Regime hinsichtlich mehrerer Verbrechen aus der NS-Zeit zu ermitteln.

Die Laufbahn endete abrupt: Ina Lautenschläger wurde im Oktober 1950 in der noch jungen DDR aus dem Polizeidienst entlassen, nachdem sie Dienstvorschriften verletzt hatte. Die berufliche Neuorientierung, die wiederum erforderlich wurde, führte sie in die „Handelsorganisation“, das als „HO“ bekannte, staatliche Einzelhandelsunternehmen der DDR, in dem sie bis zur Abteilungsleiterin aufstieg. Das Leben blieb auch weiterhin bewegt: Ina und Hans Lautenschläger trennten sich, nachdem er aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft nach Berlin zurückgekehrt war - und sie heiratete im Dezember 1952 erneut, hieß nun Ina Ender, da sie wiederum den Familiennamen ihres Ehemanns angenommen hatte. Die Beziehung zum SED-Regime gestaltete sich ebenfalls schwierig: Die Staatspartei schloss sie im Jahr 1954 aus, nahm sie aber im Dezember 1957 wieder auf - und die geschichtswissenschaftliche Literatur bewertete ihre Rolle auch in der folgenden Zeit entsprechend kontrovers. Das Urteil, sie sei keine sozialistische „Parteisoldatin“ gewesen, wirkt plausibel - und zugleich ist aber auf ein gemeinsames Portraitfoto mit Erich Mielke (* 1907, † 2000) zu verweisen, auf dem sie und der weithin gefürchtete „Minister für Staatssicherheit“ und brutale Geheimdienstchef sich einvernehmlich die Hand reichen. Sie führte, wie in jedem Fall festzuhalten bleibt, seit den ausgehenden 50er Jahren ein regimekonformes Leben im strikt kontrollierten Alltag in der DDR.

Ina Ender wurde ab dem vollendeten 50. Lebensjahr zudem von so schweren gesundheitlichen Problemen geplagt, dass an ein berufliches Wirken fortan nicht mehr zu denken war. Sie berichtete gleichwohl bis in die letzten Jahre der DDR in vielen Reden über den antifaschistischen Widerstandskampf - und sie begann nach dem Zusammenbruch des SED-Regimes, sich für die PDS zu engagieren.

Die Suche nach einem verborgenen Lebensweg
Die Rezeption des Lebensweges von Ina Ender in der hauptstädtischen Gedenkkultur ist mit wenigen Worten zusammengefasst: Sie ist unsichtbar geblieben - ein Umstand, der auch mit Blick auf ihre so erfolgreiche Modelkarriere vielleicht zu erstaunen vermag. Der nun folgende Textabsatz erfordert zudem, wie ich zuzugeben habe, leider sehr vertiefte Ortskenntnis im westlichen Berlin.

Die Suche nach dem einstigen Standort des Modeateliers von Annemarie Heise führt, wie bereits beschrieben, in das hauptstädtische Hansaviertel. Die Brückenallee und auch ihr einstiges Haus Nr. 7 jedoch gibt es schon seit langer Zeit nicht mehr. Die zuvor so prachtvolle Straße wies nach alliierten Luftangriffen im II. Weltkrieg am Ende der NS-Zeit denkbar schweren Bombenschaden auf, nahezu jedes Haus südlich des S-Bahnhofs „Bellevue“ war zerstört und ausgebrannt bis auf die Grundmauern. Die Straßenumbenennung in Bartningallee erfolgte erst im Jahr 1960 - wobei sich in der voranschreitenden Nachkriegszeit auch der Straßenverlauf mehr und mehr veränderte. Der sehr schmale Hanseatenweg, der von der heutigen Bartningallee abzweigt, windet sich über mehrere Kurven durch ein kleines Neubaugebiet, während die einstige Brückenallee in südwestlicher Himmelsrichtung ganz gerade bis zur Altonaer Straße führte und dann nach einer fast rechtwinkligen Straßenbiegung direkt weiter zum Großen Stern - seit dem Jahr 1939 der Standort der berühmten Siegessäule. Die Brückenallee ist südlich des Hanseatenweges schon vor vielen Jahren einem kleinen Kinderspielplatz und einigen mehrgeschossigen Wohnhäusern sowie dem üppig grünenden Rasen des Großen Tiergartens gewichen. Altonaer Straße heißt nun auch jener sich daran anschließende Straßenabschnitt, der aus der nordwestlichen Himmelsrichtung bis zum Großen Stern führt und dessen Name zuvor ebenfalls „Brückenallee“ lautete, da er in alter Zeit das südliche Ende der besagten historischen Straße war.


Das Haus in der Brückenallee 7 muss in einstiger Zeit dort gestanden haben, wo heute der kleine Parkplatz neben jenem markanten Veranstaltungsbau des westlichen Standorts der hauptstädtischen „Akademie der Künste“ liegt, der von 1958 bis 1960 erbaut wurde - und nichts erinnert hier an den besagten Modesalon, geschweige denn an die „Rote Kapelle“. Die hier von Ina Ender einst geleistete, umfassende Spionage gegen das NS-Regime ist undokumentiert geblieben, einen etwaigen Gedenkort an dem besagten Areal gibt es nicht.


Der Blick in den Norden der heutigen Hauptstadt zeigt ein vergleichbares Resultat. Die Gedenktafel an der noch heute bestehenden „Schulfarm Insel Scharfenberg“ in Berlin-Tegel erinnert seit dem Jahr 1984 an Hans Coppi und an Hanno Günther, die beide hier zur Schule gingen. Die einstigen Schulfreunde waren in späterer Zeit für die „Rote Kapelle“ im Widerstand und wurden unter dem Naziterror jeweils im Dezember 1942 im damaligen Strafgefängnis Plötzensee durch den Strang ermordet. Ina Ender jedoch wird neben Hans Coppi und neben Hanno Günther in der Inschrift des Mahnmals an ihrer ehemaligen Schule bis heute nicht genannt - und die beschriebene Unsichtbarkeit blieb ihr auch nach dem Tode erhalten.

Sie verstarb, weithin unbekannt und in greisem Lebensalter, im Jahr 2008 im brandenburgischen Lehnitz, ihrem letzten Wohnort. Die kleine, traditionsreiche Stadt nördlich von Berlin war wenige Jahre zuvor nach Oranienburg eingemeindet worden. Die Schilderung des immer wechselvollen Lebensweges von Ina Ender erfordert abschließend einen zusammenfassenden Blick in die zeitgeschichtliche Literatur über die „Rote Kapelle“ in der DDR. Die Geschichtsschreibung unter dem SED-Regime beschrieb und deutete das weitverzweigte Widerstandsnetzwerk oftmals auch als ein historisches Vorbild der Stasi - eine grob falsche bzw. bewusst propagandistisch ausgestaltete Literaturtradition, zu der nicht nur die engen Beziehungen mehrerer kommunistischer „Rote Kapelle“- Gruppen in die stalinistische UdSSR beigetragen haben werden, sondern vermutlich auch die Geschichte von Ina Ender.

Was aber bleibt von jener bemerkenswert agierenden Spionin? Die Motivation zum Kampf des einstigen Models gegen das NS-Regime soll zum Abschluss durch ein markantes Zitat verdeutlicht werden. Ina Ender betonte in einem Dokumentarfilm aus dem Jahr 1988, der in der DDR entstand, ein inniglicher Wunsch habe alle Personen der „Roten Kapelle“ hinweg über weltanschauliche Grenzen miteinander verbunden - und dies sei die tiefe Sehnsucht danach gewesen, „in einer friedlichen Welt“ zu leben.

Nicolas Basse M. A. - Berlin, im April 2024

Literatur
Coppi junior, Hans / Danyel, Jürgen / Tuchel, Johannes (Hgg.): Die Rote Kapelle im Widerstand gegen
Hitler
, Berlin 1992.

Ev. Bildungswerk Berlin (Hg.): Die „Rote Kapelle“, Berlin 1989.

Jahnke, Karl Heinz: Zu Hause in der DDR, Bonn 1999.

Rosiejka, Gert: Die Rote Kapelle - „Landesverrat“ als antifaschistischer Widerstand, Hamburg 1986.

Schafranek, Hans / Tuchel, Johannes (Hgg.): Krieg im Äther - Widerstand und Spionage im Zweiten
Weltkrieg
, Wien 2004.

Johannes Tuchel (Hg.): Der vergessene Widerstand - Zu Realgeschichte und Wahrnehmung des
Kampfes gegen die NS-Diktatur
, Göttingen 2005.
Quellen online bzw. auf Websites
Brändle, Petra: „Mode gegen Kriegsmaterial“, in: ‚taz. am Wochenende‘, Ausgabe vom 30. September 1995.

Klug, Thomas: „27. März 2008 - Die Widerstandskämpferin Ina Ender stirbt in Lehnitz“, Feature im WDR 5 („Zeitzeichen“) vom 27. März 2023.

Klug, Thomas: „Mannequin im Widerstand: Ina Ender und die Rote Kapelle“, Feature im DLF Kultur vom 15. März 2023.

Reitter-Welter, Barbara: „Wie die Nazis die Mode der Deutschen kontrollierten“, in: „Die Welt“, Ausgabe vom 29. Mai 2017.

Luise Meier - Hausfrau und Fluchthelferin bis in die Schweiz

Luise Meier - Hausfrau und Fluchthelferin bis in die Schweiz

Die Fluchtrouten, die Josef Höfler vom Landkreis Konstanz aus in die sehr nahe Schweiz nutzte,
führten über Feldwege; oder durch Getreidefelder; oder über Lichtungen; oder durch das Unterholz;
oder über Wiesenbäche; oder... Die Zahl der Wege, die er kannte, war groß - und wieder und wieder
gelang es dem bestens ortskundigen Handwerker deshalb, die zuvor bei seiner Ehefrau Elise und ihm
„untergetauchten“ jüdischen Mitmenschen außer Landes zu bringen, immer zu Fuß und fort, nur fort
aus dem nationalsozialistischen Deutschen Reich. Josef Höfler, der in der Gemeinde Gottmadingen
lebte, nutzte jeden Fluchtweg aus seinem heimischen Landkreis nur einmal, um in der ruralen
Umgebung seines Heimatortes keine sich wiederholenden Spuren entstehen zu lassen. Der
Widerstandskämpfer wurde für seine vielen Rettungstaten im Jahr 1984 mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet, da er unter dem NS-Regime auf die gerade geschilderte Weise insgesamt ca. 30 Jüdinnen und Juden in die Schweiz gebracht hatte, die auf den beschriebenen Wegen dem Naziterror entkommen waren.

Die Geschichte des Ehepaars Höfler, von Elise (* 1912, † 1991) und von Josef (* 1911, † 1994), ist
noch in der gegenwärtigen Zeit tief beeindruckend - und sie reichte unter dem NS-Regime aus deren
badischer Heimat bis nach Berlin, also in die damalige Reichshauptstadt. Die Eheleute Höfler waren
ab dem Jahr 1943 gleichsam die (sehr beweglichen) „Gliedmaßen“ in der Widerstandsgruppe eines
organisatorischen „Kopfes“, der alle Fluchtbewegungen mit der gebotenen Sorgfalt vom Stadtteil
Grunewald in Berlin aus plante - fernab der süddeutschen Staatsgrenze zur Schweiz bzw. beinahe
800 Kilometer entfernt von der Gemeinde Gottmadingen.

Mutter und Hausfrau - und im Widerstand
Luise Meier (* 1885, † 1979), geb. Bemm wurde im ausgehenden 19. Jahrhundert im südwestfälischen Vorhalle geboren, das im Jahr 1929 in die Stadt Hagen eingemeindet wurde. Sie war damit ein Kind des Ruhrgebiets - und sie heiratete Karl Meier (Lebensdaten unbekannt), einen Kaufmann, mit dem sie noch vor 1910 nach Soest zog, wo sie bis zum Jahr 1918 die gemeinsamen vier Söhne zur Welt brachte. Die Familie, in der sich Luise Meier ganz den Aufgaben einer Mutter und einer Hausfrau widmete, zog danach im Jahr 1930 nach Köln bzw. im Jahr 1936 nach Berlin. Familie Meier wohnte hier schließlich im Stadtteil Grunewald bzw. in der Taubertstraße 5 - in einem mehrgeschossigen Haus aus der Gründerzeit des vorangegangenen 19. Jahrhunderts.


Die Einstellung des Ehepaares zum immer weiter erstarkenden NS-Regime war eindeutig - und dies
zudem von Beginn an: Luise und Karl Meier lehnten den Nationalsozialismus strikt ab, für beide
römisch-katholische Eheleute auch eine Einstellung aus dem christlichen Glauben. Die vierfache
Mutter, deren Söhne nach und nach das volljährige Lebensalter erreichten, lebte auch in Berlin als
Hausfrau. Das Leben nahm unter dem Naziterror gleichwohl eine tiefe Wendung, gelang es ihr doch
im Laufe der Zeit mit viel Mut, großer Umsicht und nach und nach, im Widerstand ein festes
Fluchthilfenetzwerk zu organisieren, das zahlreichen Jüdinnen und Juden dabei half, in das Ausland
zu entkommen.

Der Kontakt mit einer Nachbarin stand am Beginn der beschriebenen, lebendrettenden Hilfe - und dies
im Jahr 1941. Fedora Curth (Lebensdaten unbekannt), die Jüdin war, besaß eine Pension in demselben Haus, das auch Luise Meier bewohnte. Jüdinnen und Juden lebten in recht hoher Zahl bei Frau Curth, in deren Zimmern in der Taubertstraße 5 sie vor allem aber darauf hofften, das Deutsche Reich verlassen zu können - bis die Einrichtung unter dem Naziterror im Jahr 1941 zwangsweise geschlossen wurde. Luise Meier leistete zu dieser Zeit bereits seit einigen Jahren viele nachbarschaftliche Hilfen für jüdische Mitmenschen - und schließlich erreichte sie die Nachricht, dass Fedora Curth im Herbst 1942 in die Schweiz hatte fliehen können. Die vormalige jüdische Nachbarin, mit der Frau Meier für lange Zeit eng vertraut gewesen war, hatte es geschafft, den Kanton St. Gallen zu erreichen. Wagemut war dabei entscheidend gewesen: Sie war - wenige Jahre nach dem so genannten österreichischen „Anschluss“ an das nationalsozialistische Deutsche Reich - vom vorarlbergischen Bregenz aus durch den Alten Rhein geschwommen, um dem NS-Regime zu entkommen.


Luise Meier forschte ihr deshalb von Berlin aus nach, weil sie sich dazu entschlossen hatte, ein mit ihr bekanntes jüdisches Ehepaar auf demselben Weg in die Schweiz zu bringen - was ihr schließlich auch gelang. Herta und Felix Perls waren die Eheleute, die zeitweise versteckt in der Wohnung von Frau Meier lebten und denen die von der Widerstandskämpferin sorgsam organisierte Hilfe galt - und diese leistete sie auch aus tiefer Dankbarkeit. Das Ehepaar Perls hatte sich zuvor um den schwer erkrankten Ehemann von Luise Meier gekümmert, bis zuletzt.

Tod des Ehemannes und zweier Söhne, vor allem aber: Fluchthilfe
Das Leben in den Jahren des II. Weltkrieges war auch für Luise Meier unbeschreiblich hart. Karl Meier erlag im Jahr 1942 einem schweren Krebsleiden - und zwei Söhne des Ehepaares fielen als Soldaten an der Front. Luise Meier war eine leidgeprüfte Frau, setzte ihren schon zuvor begonnenen Kampf gegen das NS-Regime jedoch fort - mit aller Entschlossenheit. Der Tod von zweien ihrer vier Söhne war in verschiedener Hinsicht zu einem einschneidenden Erlebnis geworden. „Ich hatte zwei prachtvolle Söhne, die als Offiziere an der deutschen Ostfront eingesetzt waren. Beide sind gefallen. Neben der Trauer quält mich aber auch der Gedanke, dass sie, wenn mit Sicherheit auch gegen ihren Willen, durch die Umstände der Zeit vielleicht ebenfalls an Judenmorden beteiligt gewesen sein könnten. Ich möchte daher durch einen bescheidenen Beitrag etwas für die Rettung der Juden tun“, antwortete sie noch in nationalsozialistischer Zeit auf die Frage eines jüdischen Fluchthelfers nach dem Beweggrund für ihren Widerstand.

Sie wurde im Laufe der Zeit immer wieder kontaktiert - insbesondere von verzweifelten Jüdinnen und
Juden aus dem hauptstädtischen Untergrund und schließlich sogar vom Internationalen Roten Kreuz.
Die Bitte, mit der immer mehr Mitmenschen zu ihr kamen, war immer dieselbe: Fluchthilfe aus dem
nationalsozialistischen Deutschen Reich ersehnten sie - und Luise Meier half, wie sie nur konnte und mit all ihrer Tatkraft.


Das Netzwerk, auf das sie sich dabei verlassen konnte, entstand im April 1943 bei Konstanz. Luise
Meier begleitete zu diesem Zeitpunkt die mit ihr kaum bekannte Lotte Kahle (geb. 1913, gest. 2020)
auf deren Flucht mit der Eisenbahn in das badische Singen - und in Gottmadingen (und damit im
Landkreis Konstanz) begegneten die beiden Frauen schließlich Elise und Josef Höfler. Das Ehepaar
verhalf Frau Kahle schließlich zur Flucht durch den Wald in die sehr nahe Schweiz - und dieses
Vorgehen, einmal erfolgreich, sollte sich in den folgenden Monaten noch oft wiederholen, fortan in
immer engerer Abstimmung. Die Widerstandskämpferin aus Berlin und das mit ihr verbündete badische Ehepaar konnten auf diese Weise neben anderen verfolgten Mitmenschen auch Herbert Strauss (geb. 1918, gest. 2005) retten, den Verlobten von Lotte Kahle. Das Paar heiratete im Jahr 1944 - und ein Blick in die Wissenschaftsgeschichte in viel späterer Zeit ist bedeutsam: Herbert Strauss war als Historiker maßgeblich an der Gründung des „Zentrums für Antisemitismusforschung“ (ZfA) der Technischen Universität Berlin beteiligt, als dessen erster Direktor er von 1982 bis 1990 fungierte.

Schienen- und Wanderwege bis zur Schweiz
Luise Meier nutzte ab dem April 1943 über ein Jahr lang immer wieder die Eisenbahn von Berlin aus,
um weitere Jüdinnen und Juden nach Singen zu begleiten oder ihnen zumindest die Reise dorthin zu
organisieren. Willy Vorwalder (Lebensdaten unbekannt), als Elektromonteur ein Kollege von Josef
Höfler, stand vor Ort jeweils am Bahnhof bereit und brachte - wenn die für die Flucht jeweils detailliert abgesprochenen Schritte befolgt wurden - die fliehenden Mitmenschen dann umgehend zum EhepaarHöfler in die Gemeinde Gottmadingen. Herr Vorwalder und Herr Höfler waren beide nicht an der Front: Die Männer waren in einem Walzwerk der Metallindustrie beschäftigt und leisteten damit so genannte „wehrwichtige“ Arbeit - und dass sie in den Widerstand gegen das NS-Regime gegangen waren, blieb ihrem jeweiligen Lebensumfeld verborgen.

Josef Höfler war es dann, der - wie schon geschildert - immer wieder voranging und die Jüdinnen und
Juden zu Fuß bis in die Schweiz brachte, einzeln oder in kleinen Gruppen. Die Fluchten vom Obdach
des Ehepaars Höfler in der Gemeinde Gottmadingen aus geschahen zudem nicht unbedingt „bei Nacht und Nebel“. Josef Höfler wanderte mit seinen Schützlingen oftmals vielmehr auch bei Tag durch die nahe Natur und beantwortete gelegentliche Fragen aus der Nachbarschaft mit dem Hinweis, er gehe auf einen Sonntags- oder auf einen Feiertagsausflug. Die Hilfe für ihre in Not geratenen, verzweifelten Mitmenschen ließ sich das Ehepaar Höfler von diesen selbst, wie ebenfalls zu schildern ist, gut bezahlen - anders als Luise Meier, die jene, die sich ihr anvertrauten, lediglich um Geld für die erforderlichen Eisenbahnfahrkarten bat. Der Plan, den die Gruppe zwischen Berlin und dem südlichen Baden zur Flucht in die Schweiz absprach, ging immer wieder auf - bis zum Mai 1944.

Luise Meier, die das Fluchthilfenetzwerk nach wie vor von Berlin aus organisierte, wurde verhaftet,
nachdem sie von einer zuvor gleichfalls festgenommenen jüdischen Frau in der polizeilichen Vernehmung namentlich als Fluchthelferin benannt worden war. Die Frau war Mitreisenden in der Eisenbahn durch ihr Verhalten, aber auch durch ihre zahlreichen Gepäckstücke aufgefallen - und die Verhaftungen folgten, auch Josef Höfler und Willy Vorwalder wurden gefangen genommen.

Prozesse, in denen gewiss Todesurteile der NS-Unrechtsjustiz gefällt worden wären, wurden gegen
Luise Meier und ihre beiden Helfer gleichwohl bis zum Ende des NS-Regimes nicht mehr geführt. Der
Grund für die ausgebliebenen Gerichtsverhandlungen konnte in der geschichtswissenschaftlichen
Literatur über Luise Meier nicht eindeutig belegt werden. Die Akten über die genannten Gefangenen
könnten im Februar 1945 verbrannt sein, da bei einem damaligen alliierten Luftangriff auf Berlin auch der nationalsozialistische „Volksgerichtshof“ getroffen wurde und sehr schweren Bombenschaden zu verzeichnen hatte. Die Zahl der Prozesse bzw. Schauprozesse unter dem Naziterror war zudem seit dem 20. Juli 1944 und dem damaligen Militärschlag gegen Adolf Hitler zu jedem Zeitpunkt sehr hoch - wobei es dem NS-Regime nicht mehr gelang, alle Widerstandskämpferinnen und Widerstandskämpfer, die es jagte oder bereits gefangen genommen hatte, noch vor Gericht zu stellen bzw. zum Tode verurteilen zu lassen und zu ermorden. Das allgemein zunehmende Chaos in der damaligen Reichshauptstadt mochte ebenfalls dazu beigetragen haben, dass die Gerichtsakten zur Gruppe um Luise Meier schließlich nicht mehr auffindbar waren: Die Niederlage des nationalsozialistischen Deutschen Reiches und die Schlacht um Berlin nahten Tag für Tag und Stunde um Stunde - und der damit verbundene Zusammenbruch erfasste auch die staatliche Verwaltung. Luise Meier und ihre beiden Helfer wurden fast ein Jahr nach ihrer jeweiligen Festnahme am Ende des II. Weltkrieges aus der Haft befreit - und sie überlebten den Naziterror um sehr lange Zeit.

Lebensrettungen in großer Zahl, verspätete und unvollständige Ehrung
Die Anerkennung blieb der unbeschreiblich mutigen Luise Meier und ihrer Widerstandsgruppe lange
jedoch verwehrt bzw. erfolgte für die Widerstandskämpferin und ihre organisatorischen Glanzleistungen erst nach ihrem Tod. Josef Höfler wurde, wie bereits geschildert, im Jahr 1984 mit
dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet - wenige Jahre vor seinem Tod und als einzige Person des
einstigen Fluchthilfenetzwerkes, das von Luise Meier organisiert worden war. Die Hausfrau selbst
lebte seit der Nachkriegszeit wiederum in Soest, also in der alten Heimat, wo sie im Jahr 1979 als
greise Frau verstarb und wo seit dem Jahr 2011 der Luise-Meier-Weg an sie erinnert. Sie war zuvor
(und ebenfalls posthum) in Yad Vashem als „Gerechte unter den Völkern“ anerkannt worden - im Jahr
2001, ebenso wie die Eheleute Höfler.

Das Gedenken an ihrem einstigen Wohnsitz in Berlin jedoch fehlt noch heute: Die Taubertstraße liegt
still im Stadtteil Grunewald - und nichts deutet am Haus Nr. 5 oder an irgendeinem anderen
hauptstädtischen Ort auf das für mehrere Jahre so segensreiche Wirken von Luise Meier hin, eine Gedenktafel oder anderweitige Ehrung für sie gibt es in ganz Berlin nicht. Das Haus, in dem Luise
Meier ihre zahlreichen Rettungstaten plante und von dem aus sie bei jeder Flucht auch jeweils den
ersten Schritt ging, ist damit einer der „weißen Flecken“ auf der Landkarte der deutschen Gedenkkultur geblieben - obwohl das Geschehen in diesem Haus inzwischen im Detail rekonstruiert
werden konnte. Das hier ausgebliebene Gedenken spiegelt in gewisser Hinsicht auch die Erinnerungen von Luise Meier, die nach Ende des NS-Regimes aussagte, sie habe gehört, „dass Leute sich später im Haus in Berlin-Grunewald erkundigten, ob ich tatsächlich existiere oder nur ein ‚schönes Märchen‘ sei; in irgendeiner Art anerkannt oder offiziell erwähnt wurde meine Tätigkeit nie.“


Worte der einstigen Widerstandskämpferin gehören auch in die letzten Zeilen dieses kurzen Essays,
zumal mit Blick auf ihren Glauben, denn ein Zitat sagt sehr viel über ihren einstigen Lebensweg aus. Luise Meier schrieb im Jahr 1955: „Im Gegensatz zu meinen Mitgefangenen war ich niemals verzweifelt oder verzagt; obwohl ich an meinem Todesurteil nicht zweifelte, blieb ich heiter und zuversichtlich - gestärkt durch Gebete.“

Nicolas Basse M. A. - Berlin, im August 2023

Literatur
Battel, Franco: „Wo es hell ist, dort ist die Schweiz“ - Flüchtlinge und Fluchthilfe an der Schaffhauser
Grenze zur Zeit des Nationalsozialismus
, Zürich 2001.

Fraenkel, Daniel / Borut, Jakob (Hgg.): Lexikon der Gerechten unter den Völkern - Deutsche und
Österreicher
, Göttingen 2005.

Krell, Else (Autorin), Schoppmann, Claudia (Hg.): Wir rannten um unser Leben - Illegalität und Flucht
aus Berlin 1943
, Berlin 2015.

Schoppmann, Claudia: Flucht vor dem Holocaust - Risiko Fluchthilfe, in: „Der Tagesspiegel“, Ausgabe
vom 9. Februar 2016.

Schwersenz, Jizchak: Die versteckte Gruppe, Berlin 1988.

Strauss, Lotte: Über dem grünen Hügel - Erinnerungen an Deutschland, Berlin 1997.
Quellen online bzw. auf Websites
Website https://righteous.yadvashem.org/, Datenbank der „Gerechten unter den Völkern“ der
Gedenkstätte „Yad Vashem“: Einträge zu Elise und Josef Höfler sowie zu Luise Meier.

Website https://www.gedenkstaette-stille-helden.de der Gedenkstätte Stille Helden: Eintrag zu Luise
Meier
.

Ehepaar Ransohoff - Spuren in spärlicher Zahl zu einer Rettung in Schöneberg

Ehepaar Ransohoff - Spuren in spärlicher Zahl zu einer Rettung in Schöneberg

Der Familienname, den die gerettete Jüdin trug, ist belegt, mehr jedoch nicht - auch nicht ihr Vorname oder ihr Alter. Hammerschmidt hieß jene Frau, die unter dem Naziterror einst in der Barbarossastraße 39 im Stadtteil Schöneberg von Berlin von mutigen Mitmenschen versteckt wurde und so das NS-Regime und den II. Weltkrieg überleben konnte. Das unscheinbare, mehrgeschossige Mietshaus, das sich heute an der genannten Adresse befindet, lässt nicht erahnen, dass hier in der NS-Zeit eine sehr bemerkenswerte Rettungstat vollbracht wurde - und die durch die beschriebene Tat verbundenen drei Lebenswege sind nicht mehr bzw. kaum noch zu rekonstruieren.


Dr. Ernst Ransohoff - Veteran des I. Weltkrieges und Amtsgerichtsrat
Ransohoff lautete der Familienname jenes Ehepaares, das sich unter dem NS-Regime dazu entschloss, die besagte Jüdin bei sich aufzunehmen, um sie so vor dem KZ zu bewahren. Die dabei zu berichtende, ferne Geschichte führt zu einem jüdischen Veteranen des I. Weltkrieges, der in der Weimarer Republik als Richter wirkte.

„Vergleichende Darstellung des Rechts der Städte und der Landgemeinden in den sieben östlichen Provinzen der preussischen Monarchie“ lautete der Titel der im Jahr 1918 abgeschlossenen,
rechtswissenschaftlichen Dissertation von Ernst Ransohoff (geb. 1890, gest. 1963) - und der jüdische Jurist ist diejenige der drei Personen mit Blick auf die Barbarossastraße 39, zu deren Lebensweg die meisten Details bekannt geworden sind. Ernst Ransohoff, geboren in Magdeburg, hatte Jura in Berlin und in Freiburg in Breisgau und in München studiert, bevor er im April 1918 promoviert wurde - zur gleichen Zeit seines Frontdienstes, den er seit Januar 1917 im I. Weltkrieg für das Deutsche Reich leistete. Der Staatsdienst folgte mit der Zeit: Dr. Ernst Ransohoff fungierte im brandenburgischen Cottbus ab dem Jahr 1926 schließlich als Amtsgerichtsrat und war Mitglied des Republikanischen Richterbundes sowie der liberalen Deutschen Demokratischen Partei, bevor er sich im Jahr 1931 der SPD und dem „Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold“ anschloss.

Verhaftung in der „Fabrikaktion“, Freilassung durch den „Rosenstraßen-Protest“
Der Wendepunkt für sein berufliches Wirken war der Naziterror. Der Jurist wurde als Jude unter dem
schnell sich etablierenden NS-Regime bereits im April 1933 zwangsweise beurlaubt bzw. im Sommer
1933 dauerhaft aus seinem Beruf verstoßen, weshalb das Ehepaar Ransohoff nach Berlin ging. Die
Verbindung mit einer unter dem Naziterror als „arisch“ kategorisierten Ehefrau schützte den einstigen Richter vor der Deportation - bis zur so genannten „Fabrikaktion“ im Jahr 1943. Die von der Gestapo intern als „Großaktion Juden“ bezeichnete, gezielte Jagd galt den letzten noch verbliebenen Jüdinnen und Juden in der damaligen Reichshauptstadt, die bis zu diesem Zeitpunkt in großer Zahl mit Zwangsarbeiten gepeinigt wurden. SS und Gestapo verhafteten in den letzten Februartagen des Jahres 1943 daher mehr als 8.000 Jüdinnen und Juden aus ganz Berlin, darunter auch ca. 2.000 Juden, die als Ehemänner so genannter „privilegierter Mischehen“ bislang von den Deportationen des NS-Regimes verschont geblieben waren - unter ihnen auch Dr. Ernst Ransohoff. Die Gruppe dieser Juden und so genannten „Geltungsjuden“ wurde von den anderen Gefangenen der
nationalsozialistischen „Großaktion Juden“ getrennt und in die Rosenstraße 2 - 4 verschleppt - und
damit an den einstigen Standort der (längst zerschlagenen) „Jüdischen Sozialverwaltung“ nahe dem
Alexanderplatz im Stadtteil Mitte.

Die Verzweiflung der Ehefrauen, der Töchter und weiterer weiblicher Verwandter jener gefangengenommenen 2.000 Männer führte dazu, dass sie sich am Abend des 27. Februar 1943 vor
dem genannten Haus in der Rosenstraße versammelten. Sie forderten dort, mit ihren Familienangehörigen sprechen zu dürfen, was zudem um einen Aufruf zur Freilassung der Männer ergänzt wurde. Tag für Tag wiederholten die ca. 600 Frauen eine ganze Woche lang ihren Protest in der Rosenstraße, bis die ersten Gefangenen am 6. März 1943 freigelassen wurden, ebenso wie alle anderen inhaftierten Männer in den folgenden Tagen. Der Protest war zu jedem Zeitpunkt friedlich geblieben. Dr. Ernst Ransohoff kam ebenfalls wieder frei, wurde unter dem sich fortsetzenden Naziterror jedoch danach zu körperlich schwerer Zwangsarbeit herangezogen.

Frau Ransohoff: Mut im Widerstand, Vorname unbekannt
Die Frage, ob sich auch Frau Ransohoff am so genannten „Rosenstraßen-Protest“ beteiligt hatte oder
sogar mit ihrem Ehemann in der Rosenstraße gefangen gewesen war, ist nicht zu beantworten. Sie
war gleichwohl im Widerstand gegen das NS-Regime: Das Ehepaar Ransohoff versteckte unter dem
Naziterror - wie bereits geschildert - gemeinsam einen jüdischen Mitmenschen in seiner Wohnung.
Frau Hammerschmidt, die in der Barbarossastraße 39 aufgenommene Jüdin, überlebte den Naziterror, doch ist ihr weiterer Lebensweg unbekannt geblieben.


Dr. Ernst Ransohoff wirkte in den 50er Jahren als Oberlandesgerichtsrat in Berlin wurde für die zuvor geschilderte Rettungstat im „Unbesungene Helden“-Programm (1958 - 1966) des Senats im
damaligen West-Berlin ausgezeichnet - anders als seine Ehefrau. Der Wohnort des Ehepaares, das
Frau Hammerschmidt in der NS-Zeit gemeinsam vor der Deportation bewahrt hatte, ist in den Akten
der genannten politischen Ehrungsinitiative belegt, jedoch weist am mehrgeschossigen Mietshaus in
der Barbarossastraße 39 noch heute nichts auf die hier vollbrachte Rettungstat des widerständigen
Ehepaares und die von ihm aufgenommene Frau hin. Der Lebensweg der Retterin und des Retters ist
aus den wenigen gesicherten Fakten nicht mehr eingehend nachzuzeichnen - und dies betrifft
insbesondere Frau Ransohoff, von der nicht einmal mehr ihr Vorname bekannt ist.

Inschrift im „Haus des Rechts“
Die Spur des Lebensweges von Dr. Ernst Ransohoff dagegen führt inzwischen in den Stadtteil Mitte
von Berlin, wo sein Name zum Bestandteil einer Gedenktafel im „Haus des Rechts“ geworden ist. Der
„Deutsche Richterbund - Bund der Richterinnen und Richter, Staatsanwältinnen und Staatsanwälte e.
V. (DRB)“ erinnert an seinem Sitz in der Kronenstraße 73 / 74 seit dem Jahr 2010 an eine Vielzahl von Jüdinnen und Juden, die unter dem NS-Regime aus ihren juristischen Berufen vertrieben wurden. Das Ehrenzeichen ist aus Kupfer und etwa zwei Meter hoch - und unter den einst verstoßenen, hier nun aber in alphabetischer Reihenfolge inschriftlich verewigten Juristinnen und Juristen ist auch Dr. Ernst Ransohoff aufgelistet, der in der NS-Zeit als Jude einer Jüdin beistand, gemeinsam mit seiner Ehefrau.

Nicolas Basse M. A. - Berlin, im November 2023

Literatur
Akten- und Archivbestand des „Unbesungene Helden“-Programms des Senats von West-Berlin (1958 bis 1966).

Bergemann, Hans / Ladwig-Winters, Simone: Richter und Staatsanwälte jüdischer Herkunft in Preußen im Nationalsozialismus - Eine rechtstatsächliche Untersuchung. Eine Dokumentation, Köln 2004.

Riffel, Dennis: Unbesungene Helden - Die Ehrungsinitiative des Berliner Senats 1958 bis 1966, Berlin 2007.

Margarete Rönnfeldt - Telegramm mit einem einzigen Wort: „Selbstverständlich“

Margarete Rönnfeldt - Telegramm mit einem einzigen Wort: „Selbstverständlich“

„Ernsthaft & Co.“ lautete der Firmenname - und spezialisiert war das erfolgreiche Importunternehmen auf den Bierhandel. Heinrich Ernsthaft (geb. 1869, gest. 1974), der es besaß und mit Umsicht leitete, war zudem ein vielfach talentierter Mann, hatte einst als Operettensänger auf Wiener Bühnen brilliert und war nach dem Umzug aus seiner österreichischen Heimat in das Deutsche Reich auch in Berlin zu einem angesehenen Künstler geworden. Der Unternehmer hatte es zu Wohlstand gebracht und wurde im Jahr 1905 der erste Mieter, der in die Schwäbische Straße 3 einzog - im erst entstehenden „Bayerischen Viertel“ von Schöneberg, das im Jahr 1920 in das damalige „Groß-Berlin“ eingemeindet wurde.

Die Wohnung, in der er lebte und für die er mehrere Bedienstete beschäftigte, wurde zu einem sehr beliebten Treffpunkt der gut betuchten, hauptstädtischen Gesellschaftsschicht, die das Domizil des österreichischen Geschäftsmannes gerne zu vornehmen Abendgesellschaften besuchte. Das sehr noble „Café Wien“ am Kurfürstendamm war eines der Etablissements der damaligen Reichshauptstadt, in denen er bevorzugt verkehrte - und dies war gewiss nicht nur auf die namentliche Verbindung zu seiner einstigen Heimatstadt zurückzuführen, sondern vor allem auf den internationalen Ruf des renommierten Kaffeehauses und auf dessen erlesene Speisen.

Die Bindung eines Kindermädchens
Lilli Doller (geb. 1901, gest. 2001) wurde zu Beginn der beinahe sagenumwobenen „Goldenen Zwanziger“ die Liebe seines Lebens. Die Stenotypistin entstammte einer österreichischen Familie - und dies verband sie mit ihrem Galan ebenso wie der jüdische Glaube. Das Paar heiratete im Jahr 1922, wobei Lilli Doller den Familiennamen ihres Ehemannes annahm. Sie zog zudem in die Schwäbische Straße 3 - und nachdem sie im folgenden Jahr schwanger geworden war, wurde es schließlich auch erforderlich, ein Kindermädchen zu suchen.


Margarete Borchert (* 1901, † 1981) arbeitete deshalb seit dem Jahr 1925 als Hausangestellte bei Lilli und Heinrich Ernsthaft - und zu ihren Aufgaben gehörte dabei auch die Betreuung des einzigen Kindes des Ehepaares: Harry Ernsthaft (geb. 1924, gest. 1978), der im vorangegangenen Jahr geboren worden war. Die Verbundenheit mit seinen Eltern, insbesondere aber mit dem kleinen Harry blieb sehr fest - auch als Margarete Borchert ihre Anstellung nach nicht allzu langer Zeit wieder aufgab. Sie heiratete im Jahr 1927 und lebte nach der Eheschließung im brandenburgischen Neuenhagen, sehr nahe der östlichen Stadtgrenze der damaligen Reichshauptstadt. Margarete Rönnfeldt hieß sie nun, da sie den Familiennamen ihres Ehemannes Fritz angenommen hatte - und die folgenden Jahre standen für die redliche Hausfrau ganz im Zeichen ihrer Familie bzw. insbesondere der Geburt und der Erziehung der drei Kinder, die sie zur Welt brachte.

Familie Ernsthaft aus Schöneberg: Flucht des Sohns, Zuflucht der Eltern im Krankenhaus
Der Naziterror traf in Berlin ab dem Jahr 1933 schließlich auch Familie Ernsthaft, nicht zuletzt durch den erzwungenen Verkauf des zuvor florierenden Importunternehmens von Heinrich Ernsthaft. Die Firma veräußerte er im Jahr 1937 an einen seiner Mitarbeiter - zu einem völlig unangemessen niedrigen Verkaufspreis, der durch den Druck und den antisemitischen Hass unter dem NS-Regime zustande gekommen war.

Der Deportationsbefehl des NS-Regimes gegen die Eltern und ihren nunmehr jugendlichen Sohn erging im September 1942. Die „Atempause“, die der verfolgten Familie zuerst blieb, war eine Krankheit, die einen Klinikaufenthalt von Heinrich Ernsthaft erforderte. Der schon betagte, einstige Unternehmer wurde mit seiner Ehefrau in das Jüdische Krankenhaus im Stadtteil Gesundbrunnen im nördlichen Berlin eingewiesen - und hier wurde seine Pflegebedürftigkeit immer deutlicher, weshalb er dauerhaft als Patient behandelt und versorgt wurde.

Die Existenz einer jüdischen Klinik unter dem Naziterror mag erstaunen, erklärt sich aber dadurch, dass das Krankenhaus vor allem als Sammellager für Jüdinnen und Juden missbraucht wurde, die zur Deportation in Konzentrationslager vorgesehen waren - inmitten der ebenfalls aufrechterhaltenen medizinischen Versorgung. Lilli Ernsthaft beschrieb das Jüdische Krankenhaus Berlin in ihren Erinnerungen aber auch als „eine Attrappe“, die dem propagandistischen Zweck einer angeblich vorbildlichen Versorgung der jüdischen Bevölkerung unter dem NS-Regime diente. Sie berichtete noch an ihrem Lebensabend zudem über eine spezielle Anweisung von Dr. Joseph Goebbels: Der „Reichspropagandaminister“ des NS-Regimes habe im Jahr 1942 verfügt, 250 Jüdinnen und Juden, die besonders alt und gebrechlich waren, nicht in die KZ zu verschleppen, da er dies als zu aufwendig erachtete - und zu dieser Gruppe gehörte auch Heinrich Ernsthaft, der somit im Krankenhaus verblieb, wo ihn jedoch die bleibende Angst vor einer Deportation auf dem Krankenbett begleitete.

Der Sohn indessen entschloss sich in den letzten Februartagen des Jahres 1943 zur Flucht, um dem Naziterror zu entgehen. Harry Ernsthaft war zuvor mit Zwangsarbeit für die hauptstädtische Müllabfuhr gepeinigt worden, was ihn, den aus gutem Hause stammenden, zuvor wohlhabenden Sohn einst sehr vermögender Eltern sehr hart getroffen haben wird. Der Entschluss, in den Untergrund zu gehen, stand schließlich fest - und Harry Ernsthaft lebte auf seiner innerstädtischen Flucht zuerst versteckt bei einem Verwandten. Der Mann, der ihn aufnahm, galt in der rassistischen Weltsicht des NS-Regimes als so genannter „Halbjude“ und war mit einer als „arisch“ kategorisierten Ehefrau verheiratet, weshalb auch der „untergetauchte“ Jude auf einen gewissen Schutz zu hoffen wagte.

Der Wechsel seines ersten Verstecks jedoch wurde schneller als gedacht notwendig: Die Nachbarschaft bemerkte nach einem alliierten Luftangriff den sehr jungen Mann, der in dem Haus, in dem seine Verwandtschaft ihn aufgenommen hatte, nicht bekannt war. Die Rettung wurde durch seine Mutter eingeleitet, die mit ihrem Ehemann von der drohenden Verschleppung noch immer verschont geblieben war und zu dieser Zeit als Sekretärin des Verwaltungsdirektors in dem schon beschriebenen Jüdischen Krankenhaus zu arbeiten begonnen hatte. Die Stunde schlug schließlich, in der auch die einstige Hausangestellte der Familie sich zu handeln entschloss. Margarete Rönnfeldt wurde von der verzweifelten Lilli Ernsthaft kontaktiert und dabei gefragt, ob sie ihren Sohn in Neuenhagen, ihrer brandenburgischen Heimat, aufnehmen könne - und sie willigte umgehend ein. Frau Ernsthaft berichtete in viel späterer Zeit in ihren autobiographischen Notizen, dass ihre einstige Bedienstete die Frage, ob sie ihren Sohn verstecken könne, direkt am folgenden Tag per Telegramm und mit nur einem einzigen Wort beantwortet habe: „Selbstverständlich“.

Kellerversteck im brandenburgischen Neuenhagen
Harry Ernsthaft, den Margarete Rönnfeldt in seiner schon fernen Kindheit betreut hatte, wurde im Jahr 1943 in ihr Haus im brandenburgischen Umland aufgenommen - in Sichtweite der östlichen Stadtgrenze von Berlin. Die Schilderungen der (spärlich vorhandenen) biographischen Literatur über den Weg in das neue Versteck widersprechen sich mit Blick auf den Zeitpunkt, weshalb nicht eindeutig belegt ist, ob Harry Ernsthaft im März 1943 bei der Helferin in der Gefahr unterkam oder erst ein halbes Jahr danach im September 1943.

Der neuerlich versteckte junge Jude lebte in jedem Fall fortan die meiste Zeit bei Margarete Rönnfeldt und ihren drei Kindern im Keller, brachte sich aber auch in das Familienleben ein: Harry Ernsthaft half etwa bei schulischen Hausaufgaben und brachte dem Nachwuchs von Familie Rönnfeldt bei, Klavier zu spielen. Die Kinder nannten ihn zudem „Onkel Harry“, da ihre Mutter ihnen gesagt hatte, er sei ein Kamerad des Vaters bzw. ihres Ehemannes, der als Soldat im II. Weltkrieg diente. Die Mutter belehrte sie zugleich jedoch mit sehr deutlichen Worten darin, dass niemand von „Onkel Harry“ erfahren durfte - und nicht einmal ihre Schwiegereltern, die in der direkt benachbarten Gartenlaube lebten, wurden von Margarete Rönnfeldt in die neue Situation eingeweiht. Harry Ernsthaft wiederum verließ sein enges Kellerversteck denkbar selten und zudem fast ausschließlich in tiefer Nacht, um in der Dunkelheit gelegentlich ein wenig frische Luft zu atmen. Der Plan zur Rettung ging schließlich auf wie erhofft: Harry Ernsthaft wurde bis zum Ende des NS-Regimes bzw. des II. Weltkrieges von Margarete Rönnfeldt versorgt und überlebte auf die beschriebene Weise, ebenso wie seine Eltern im Jüdischen Krankenhaus Berlin.

Rückkehr in die Schwäbische Straße 3
Das Leben blieb dennoch hart: Heinrich Ernsthaft, der für lange Zeit von schwerer Krankheit geplagt worden war, verstarb im Jahr 1947, nachdem seine Ehefrau Lilli bis zuletzt an seiner Seite geblieben war. Harry Ernsthaft wiederum wanderte im Jahr 1956 in die USA aus und lebte fortan in New York, verstarb jedoch mit „Mitte 50“ im Jahr 1978 an Blutkrebs - und seine Mutter, die mehrere Jahrzehnte zuvor bereits seinen Vater bzw. ihren Ehemann zu Grabe getragen hatte, überlebte nun auch den eigenen Sohn um viele Jahre.

Sie sprach, wie eine Nachbarin zu berichten wusste, noch am Lebensabend „das Deutsch der Weimarer Republik“, lebte von und in ihren Erinnerungen - und sie ist alt geworden, sehr, sehr alt. Lilli Ernsthaft verstarb im Jahr 2001 erst wenige Monate vor ihrem 100. Geburtstag, nachdem sie beinahe 80 Jahre unter derselben Adresse gelebt hatte. Der Weg aus dem Jüdischen Krankenhaus im Stadtteil Gesundbrunnen hatte sie nach dem Tod ihres Ehemannes zurück in die Schwäbische Straße geführt, wo sie wiederum in das Haus Nr. 3 eingezogen war, gemeinsam mit ihrem Sohn Harry, der erst mehrere Jahre danach auszuwandern beschloss.


Der Naziterror hatte auch in der besagten, nur kurzen Straße des „Bayerischen Viertels“ von Schöneberg für unfassbares Leid gesorgt, denn mehr als 100 Jüdinnen und Juden waren hier aus ihren Wohnungen verschleppt worden - mindestens. Lilli Ernsthaft berichtete noch in ihren letzten Lebensjahren über zahlreiche Details, wenn sie zu Geschehnissen unter dem NS-Regime befragt wurde - und nach und nach ließ sich auch die Geschichte ihrer einstigen Hausangestellten rekonstruieren, die für sie und für ihren Sohn in den Widerstand gegangen war.

„Gerechte unter den Völkern“, keine Gedenktafel in der Heimat
Margarete Rönnfeldt verstarb im Jahr 1981. Sie wurde von Yad Vashem posthum im Jahr 2003 als „Gerechte unter den Völkern“ anerkannt, aber eine Gedenktafel, eine nach ihr benannte Straße oder eine vergleichbare Ehrung fehlt noch immer - im brandenburgischen Neuenhagen ebenso wie in Berlin.

Der Wortlaut ihres einst an Lilli Ernsthaft verschickten, rettenden Telegramms sei zum Abschluss noch einmal hervorgehoben. Sie hatte der verzweifelten jüdischen Mutter zur Frage, ob sie deren Sohn verstecken könne, im Jahr 1943 nicht „ja“ geschrieben, sondern sehr bewusst „selbstverständlich“ - und dieses Wort spiegelt die Einstellung der meisten Widerstandskämpferinnen und Widerstandskämpfer zu ihrem Kampf gegen das NS-Regime und gegen dessen systematische Massendeportationen an der jüdischen Bevölkerung. Margarete Rönnfeldt und viele andere mutige Mitmenschen sahen sich selbst nicht etwa als Heldinnen und Helden, sondern handelten so, wie ihr Gewissen und ihre Redlichkeit es ihnen eingaben. Ehrfurcht für das, was sie unter erheblichen Entbehrungen und in größter Gefahr auf sich nahmen, war ihnen seitens derer, denen sie halfen, aus gutem Grunde dennoch gewiss, denn - wie Lilli Ernsthaft einmal betonte - „selbstverständlich war es beileibe nicht, dass eine Familie mit drei kleinen Kindern ihr Leben und ihre Existenz riskierte, um einen illegal lebenden Juden zu retten.“

Nicolas Basse M. A. - Berlin, im März 2024

Literatur
Fraenkel, Daniel / Borut, Jakob (Hgg.): Lexikon der Gerechten unter den Völkern - Deutsche und
Österreicher
, Göttingen 2005.

Hugues, Pascale: Ruhige Straße in guter Wohnlage, Hamburg 2015.

Rübsam, Jens: Schweigen über die Vergangenheit, in: ‚taz. die tageszeitung‘, Ausgabe vom 23.
November 1996.
Quellen online bzw. auf Websites
Website https://www.gedenkstaette-stille-helden der Gedenkstätte Stille Helden: Einträge zu Harry Ernsthaft und zu Margarete Rönnfeldt.

Website https://righteous.yadvashem.org/, Datenbank der „Gerechten unter den Völkern“ der Gedenkstätte „Yad Vashem“: Eintrag zu Margarete Rönnfeldt.

Emma Richter - Rettungstat in Schöneberg und in Schönewalde

Emma Richter - Rettungstat in Schöneberg und in Schönewalde

Die Frauen wurden gute Freundinnen und ihre gemeinsame Geschichte begann hinter einem Verkaufstresen. Emma Richter (* 1891, † 1968) und Meta Sawady (geb. 1897, gest. 1981) arbeiteten seit dem Jahr 1924 in demselben Tabakwarenladen in Berlin - und sie ahnten damals noch nicht einmal, dass die eine der anderen in viel späterer Zeit unter dem Naziterror das Leben retten sollte. Meta Sawady war Jüdin und entkam der Jagd durch das NS-Regime nur durch die beherzte Hilfe der beispiellos mutigen Emma Richter, von der sie an verschiedenen Orten versteckt und versorgt wurde.

Kolleginnen seit den 20er Jahren - und Freundinnen
Fragmente und gesicherte Daten zu den fest miteinander verbundenen Lebenswegen der beiden Frauen gibt es aus der Zeit vor ihrer ersten Begegnung in lediglich geringer Zahl. Frau Richter stammte aus Cottbus. Frau Sawady stammte aus Ritschenwalde, also dem Dorf Ryczywół im heutigen Polen, das seinen deutschen Namen von 1875 bis 1919 und dann wieder (unter deutscher Besatzung im II. Weltkrieg) von 1939 bis 1945 trug. Die besagte, kleine Ortschaft war der Sitz der gleichnamigen Landgemeinde nördlich von Posen und zudem einer sehr, sehr traditionsreichen jüdischen Gemeinde, deren Geschichte bis in das 17. Jahrhundert nachgewiesen ist. (Der Name des von Ryczywół in östlicher Himmelsrichtung nächstgelegenen, alten Dorfes lautet - nebenbei bemerkt - Zawady.)

Frau Richter und Frau Sawady begegneten einander schließlich in Berlin. Der Zigarrenhandel, in dem sie Verkaufsgehilfinnen waren, befand sich in der Innsbrucker Straße 40 im Stadtteil Schöneberg. Emma Richter wiederum lebte für lange Jahre in der Motzstraße 30 in einem benachbarten Kiez und damit ca. zwei Kilometer vom gemeinsamen Arbeitsplatz entfernt in demselben Stadtteil - und ihre Wohnung war unter dem Naziterror in verschiedener Hinsicht von besonderer Bedeutung für beide Frauen. Frau Richter nahm Frau Sawady im November 1938 bei sich auf. Der blanke antisemitische Hass im gesamten nationalsozialistischen Deutschen Reich explodierte zu diesem Zeitpunkt für mehrere Tage und für mehrere Nächte in denkbar brutalen Pogromen rund um den und insbesondere am 9. November 1938. Die nunmehr bei ihrer treuen Freundin untergekommene, nach wie vor bedrohte Jüdin wurde vom NS-Regime bald darauf zur Zwangsarbeit herangezogen, die sie dann Jahr für Jahr zu leisten hatte - und sie blieb eine gejagte Frau.


Meta Sawady wurde am 27. Februar 1943 bei der „Großaktion Juden“ des NS-Regimes festgenommen - also im Zuge der sehr zahlreichen Verhaftungen der letzten Jüdinnen und Juden, die insbesondere in der damaligen Reichshauptstadt mit Zwangsarbeit gepeinigt wurden, nicht zuletzt in Betrieben der Rüstungsindustrie. (Die Jagd, die am 27. Februar 1943 begann, wurde von betroffenen Jüdinnen und Juden, die sie überlebten, nach dem Ende des NS-Regimes als „Fabrikaktion“ bezeichnet - ein Begriff, der sich in der geschichtswissenschaftlichen Literatur etabliert und gehalten hat.) Die Jüdin hatte danach Glück - viel, viel Glück: Sie entkam aus dem Eisenbahnzug, mit dem sie in das KZ Auschwitz deportiert werden sollte. Die Flucht führte sie sodann zurück in die vertraute Umgebung in Berlin und direkt in die Wohnung von Emma Richter, in der sie nun wieder verborgen lebte - vorerst für weitere sechs Monate und dabei in bleibender Angst vor einer neuerlichen Verschleppung.

Flucht aus Berlin, Versteck in Brandenburg, Mord an Schwester und Schwager
Der Versteckwechsel erfolgte, als Berlin zum Kriegsschauplatz wurde. Die Zahl der Luftangriffe der britischen Royal Air Force auf die damalige Reichshauptstadt nahm seit der letzten Augustwoche 1943 deutlich zu. Frau Richter brachte Frau Sawady zu diesem Zeitpunkt deshalb nach Schönewalde im ländlichen Brandenburg. Die Kleinstadt lag ca. 75 Kilometer von der südlichen Berliner Stadtgrenze entfernt und hier konnte die „untergetauchte“ Jüdin fortan versteckt in einem kleinen Sommerhaus leben. Emma Richter gewährleistete auch weiterhin die Versorgung ihrer Freundin insbesondere mit Lebensmitteln, aber auch mit anderen Gütern. Die Widerstandskämpferin nahm dafür immer wieder den weiten Weg bis zur Gartenlaube in der brandenburgischen Provinz auf sich, den sie innerhalb der damaligen Reichshauptstadt vor allem mit der Straßenbahn zurücklegte und der insgesamt ca. eineinhalb Stunden dauerte. Sie absolvierte diese Strecke in der gebotenen Ruhe, geduldig, „bei Wind und bei Wetter“ und bis zum Ende des NS-Regimes im Mai 1945 - Tag für Tag. Die Hilfe, die Emma Richter treu leistete, beschränkte sich zudem nicht auf ihre Freundin, belegt ist vielmehr, dass sie auch mehrere ihrer Familienangehörigen unterstützte. Lebensmittelpakete verschickte sie unter dem Naziterror dabei zuerst in das damalige Deportationssammellager in der Großen Hamburger Straße im hauptstädtischen Stadtzentrum und schließlich bis in das Ghetto Theresienstadt.

Meta Sawady überlebte auf die beschriebene Weise das NS-Regime und den II. Weltkrieg - anders als ihre ältere Schwester. Sophie Cahn (geb. 1894, gest. 1944), geb. Sawady, wurde im Oktober 1944 in das KZ Auschwitz deportiert und dort ermordet. Dies geschah nur wenige Monate, nachdem Philipp Cahn (geb. 1887, gest. 1944), ihr Ehemann, im Ghetto Theresienstadt an einem Herzinfarkt verstorben und somit ebenso dem Holocaust zum Opfer gefallen war. Das Ehepaar war im Mai 1943 gemeinsam in das genannte Ghetto verschleppt worden und hatte einst in der Wullenweberstraße 5 im Stadtteil Moabit von Berlin gelebt. Stolpersteine erinnern seit dem Jahr 2009 unter der besagten Adresse an die beiden Eheleute. Gudula Cahn (geb. 1926), ihre Tochter, war im Juni 1939 als Jugendliche mit einem der letzten Kindertransporte aus dem nationalsozialistischen Deutschen Reich nach Großbritannien entkommen. ‚Sawady‘ ist als Geburtsname auf dem metallenen Mahnmal in Moabit zu Ehren von Sophie Cahn eingraviert - und diese Inschrift ist die einzige Erinnerung an die jüdische Familie in ganz Berlin, denn einen Stolperstein für Meta Sawady gibt es (noch) nicht.

Lebenswege im Dunkeln, Blick nach Yad Vashem
Telefonbücher aus lange vergangenen Jahrzehnten belegen, dass Meta Sawady in der unmittelbaren Nachkriegszeit erneut in der Motzstraße 30 im Stadtteil Schöneberg des damaligen West-Berlin lebte - dort, wo ihre Rettung durch die mit ihr befreundete Widerstandskämpferin begonnen hatte. Der Zusatz „Hausger[äte] u. Geschenkart[ikel]“ hinter ihrem Adresseintrag in den späten 40er Jahren zeugt zudem von einem beruflichen Neuanfang nach der NS-Zeit.

Das Leben von Emma Richter dagegen ist - abgesehen von ihrer gut zu rekonstruierenden Tat unter dem Naziterror - weithin unbekannt geblieben. Sie verstarb im September 1968 als Witwe im traditionsreichen Wenckebach-Krankenhaus im Stadtteil Tempelhof des damaligen West-Berlin. Die nahegelegene Albrechtstraße 113 war ihr letzter Wohnort - und neben ihrem Geburtsnamen Belzig mag im amtlichen Wortlaut ihrer Sterbeurkunde noch der Eintrag „ohne Beruf“ auffallen, als Indiz eines gewiss steinigen Lebensweges nach dem Ende des NS-Regimes bzw. in der geteilten Stadt.

Die Ehrungen jedoch, die ihr am Lebensabend zuteil wurden, sind für alle Zeit von besonderer Bedeutung und seien deshalb in den letzten Zeilen dieses Essays hervorgehoben. Emma Richter wurde für ihren Kampf gegen den Naziterror im „Unbesungene Helden“-Programm (1958 - 66) der Jüdischen Gemeinde und des Senats im damaligen West-Berlin ebenso anerkannt wie von Yad Vashem. Der Johannisbrotbaum, der am 13. Oktober 1964 zu ihren Ehren an der „Allee der Gerechten“ gepflanzt wurde, gedeiht auf dem weiten Areal des israelischen Erinnerungsortes noch immer. Die Auszeichnung der einstigen Zigarrenverkäuferin erfolgte zu einem für eine Deutsche sehr, sehr frühen Zeitpunkt der Geschichte von Yad Vashem - und ein biographisches Detail ist bemerkenswert: Emma Richter war von den bis heute mehr als 650 „Gerechten unter den Völkern“ mit deutscher Staatsangehörigkeit die erste Frau.

Nicolas Basse M. A. - Berlin, im Oktober 2024

Literatur
Fraenkel, Daniel / Borut, Jakob (Hgg.): Lexikon der Gerechten unter den Völkern - Deutsche und Österreicher, Göttingen 2005.
Quellen online bzw. auf Websites
Website https://righteous.yadvashem.org/, Datenbank der „Gerechten unter den Völkern“ der Gedenkstätte „Yad Vashem“: Eintrag zu Emma Richter.

Website www.ancestry.de (Plattform zur Ahnenforschung) für Telefonbucheinträge zu Meta Sawady bzw. für die
Sterbeurkunde von Meta Sawady.

Website www.stolpersteine-berlin.de/de.

In Israel ausgezeichnet, in Berlin unsichtbar: Mutter und Tochter retteten drei Frauen vor dem Nazi-Terror

In Israel ausgezeichnet, in Berlin unsichtbar: Mutter und Tochter retteten drei Frauen vor dem Nazi-Terror

[Anmerkung: Der folgende Essay wurde am 24. August 2024 unter der oben zitierten Schlagzeile als Gastbeitrag im „Tagesspiegel“ publiziert - in der gedruckten Ausgabe auf Seite B 10 - B 11 und online als „Paid Content“. Der hier nachzulesende Wortlaut entspricht der online erschienenen Textversion, lediglich die begleitenden Fotos wurden mit Blick auf die Bildrechte verändert.]

Gertrud Schoenberner und Anna Schoenberner-Müller widersetzten sich den Nazis. In Yad Vashem wurden sie als „Gerechte unter den Völkern“ geehrt, in ihrer Heimat vergessen - wie so viele.

Von Nicolas Basse

Ein kantiger Bau, auf der Fassade ein Wabenmuster: Der einst größte Standort von „Karstadt Sports“ in Berlin sticht noch immer hervor. An der Kreuzung von Joachimsthaler Straße und Kantstraße, unweit des Bahnhofs Zoo, gab es auf vier Etagen ein riesiges Angebot an Fußbällen, Fitnessgeräten oder Skiausrüstungen – bis zur Schließung im Jahr 2020.


Unsichtbar ist heute hingegen die Vergangenheit des Ortes unter dem Nazi-Terror. Ehe in den 1950er-Jahren ein Warenhaus entstand, lebten an dieser Stelle zwei mutige Frauen: Gertrud Schoenberner (geboren 1874) und ihre Adoptivtocher Anna Schoenberner-Müller (geboren 1894). Sie waren Widerstandskämpferinnen gegen das NS-Regime. Ihr Wohnort war die Kantstraße 159.

Das Mietshaus, in dem sie lebten, gibt es seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr. Nur die Hausnummer ist erhalten geblieben, an der hintersten Ecke der ehemaligen Sportfiliale. Nichts erinnert hier jedoch an die erste von zwei Rettungstaten der Schoenberner-Frauen unter den Nazis: Sie hatten in ihrer Wohnung eine Jüdin versteckt und so vor dem KZ bewahrt.


Die Geschichte von Gertrud Schoenberner und Anna Schoenberner-Müller ist nirgendwo in Berlin dokumentiert. Das ist erstaunlich, denn fernab ihrer Heimat sind die beiden Frauen schon vor langer Zeit geehrt worden. Die israelische Gedenkstätte Yad Vashem hat sie nach ihrem Tod als „Gerechte unter den Völkern“ anerkannt - als zwei von nur etwas mehr als 650 Deutschen. Die Auszeichnung erfolgte am 27. August 1997. Ihre Namen sind seitdem auf der Ehrenmauer im Garten der Gedenkstätte verewigt.

Verfolgt und verzweifelt - dann fand sie Schutz
Die Ereignisse hinter der Ehrung führen zurück ins Jahr 1942 - und zu Alice Schneider-Didam, einer Jüdin. Geboren im Jahr 1882 in Düsseldorf, lebte sie mittlerweile in Berlin. In jenem Sommer 1942 war Alice Schneider-Didam tief verzweifelt. Sie versuchte, sich das Leben zu nehmen, überstand aber ihren Suizidversuch. Anschließend wurde sie im Jüdischen Krankenhaus im Ortsteil Gesundbrunnen behandelt.

Die Klinik durfte ihren Betrieb auch unter dem NS-Regime aufrechterhalten. Die Nazis missbrauchten das Haus zugleich jedoch als Sammellager für die Verschleppung von erkrankten Jüdinnen und Juden. Schneider-Didam trat deshalb die Flucht an, als sie nicht mehr Patientin des Krankenhauses war. Sie ging im Herbst 1942 in den Untergrund. Die vorläufige Rettung erfolgte durch Gertrud Schoenberner und Anna Schoenberner-Müller. Die Frauen nahmen die „untergetauchte“ Jüdin auf, als sie um Hilfe bat. Mehr als ein Jahr lang versteckten sie Schneider-Didam in ihrer Wohnung, versorgten sie auch mit Lebensmitteln. Mitten in der Millionenstadt erforderte das viel Mut und besondere Umsicht, die Gefahr war groß, entdeckt zu werden.

Eine Bombennacht vernichtete die sichere Wohnung
Das Haus in der Kantstraße 159 wurde jedoch in der Bombennacht vom 15. November 1943 zerstört. Zu diesem Datum begannen die bis dahin schwersten alliierten Luftangriffe auf Berlin. Die britische Royal Air Force schlug bald auch dem Turm der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche tiefe Wunden, die Gefechtsspuren an dem Gotteshaus stammen vor allem vom 22. November 1943. Die Kirche lag in Sichtweite des zerbombten Hauses der Schoenberner-Frauen. Die Widerstandskämpferinnen hatten ihre Wohnung verloren – und Alice Schneider-Didam brauchte ein neues Versteck. Sie trennte sich von ihren Retterinnen, überlebte am Ende das NS-Regime.

Gertrud Schoenberner und Anna Schoenberner-Müller blieben in Berlin. Sie setzten ihren Kampf gegen die Nazis an ihrem neuen Wohnort fort. Nach dem November 1943 lebten die Widerstandskämpferinnen im Deisterpfad 31 in Zehlendorf. Hier nahmen sie zwei weitere bedrohte Frauen auf: Rosa Jaerschky-Zacharias (geboren 1865) und deren Tochter Lola Jaerschky (geboren 1902). Diese beiden Frauen wurden von den Nazis ebenfalls rassistisch verfolgt. Die Mutter war Jüdin. Die Tochter galt unter dem NS-Regime als sogenannter „Mischling ersten Grades“. Die Verbindung zwischen den vier Frauen bestand schon zuvor. Rosa Jaerschky-Zacharias hatte im Herbst 1942 die rettende Begegnung zwischen Alice Schneider-Didam und Gertrud Schoenberner vermittelt. Die Schoenberners waren Patientinnen ihres Mannes Paul Jaerschky. Der Arzt verstarb 1941.

Mutter und Tochter Jaerschky waren danach von der Deportation bedroht. Ihre Flucht führte sie in die Wohnung der Widerstandskämpferinnen. Die „untergetauchten“ Frauen blieben ab dem 13. September 1944 im Deisterpfad 31. Sie wurden hier von den Schoenberner-Frauen verborgen und versorgt – bis zur Befreiung durch die Rote Armee am 24. April 1945. An diesem Tag wurden die Kampfhandlungen in Zehlendorf eingestellt, mehr als eine Woche vor dem Ende der gesamten Schlacht um Berlin. Rosa Jaerschky-Zacharias und Lola Jaerschky verließen ihr Versteck am 26. April 1945.

Die Ehrung wurde zur Familienangelegenheit
Die Spuren verlieren sich danach. Gertrud Schoenberner verstarb im folgenden Jahr. Die Jaerschky-Frauen lebten nach ihrer Rettung in der Scharfestraße 4 - 6 in Zehlendorf. Rosa Jaerschky-Zacharias verschied hier im Januar 1954. Sie starb an Altersschwäche.

Anna Schoenberner-Müller durfte noch eine besondere Ehre erleben. Sie wurde im Programm „Unbesungene Helden“ anerkannt. Der Senat von West-Berlin zeichnete unter diesem Titel zwischen 1958 und 1966 mehr als 750 Berlinerinnen und Berliner aus, die unter dem Nazi-Terror jüdische Mitmenschen unterstützt beziehungsweise gerettet hatten.

Die Ehrungen erfolgten alle auf Anregung der Jüdischen Gemeinde. Sie wurden in der Politik maßgeblich befördert von dem sozialdemokratischen Innensenator Joachim Lipschitz (1918-1961). Gertrud Schoenberner wurde die Auszeichnung posthum zuerkannt. Anna Schoenberner-Müller schied 1967 aus dem Leben. Die Sterbeurkunde wies sie als „frühere Hausgehilfin“ aus. Ihr letzter Wohnsitz war die Stindestraße 3 in Steglitz. Aber auch dort erinnert nichts an die Rettungstaten, die ihr mit ihrer Mutter gelungen waren - genauso wenig wie im Deisterpfad und der Kantstraße.

Die Anerkennung der beiden Widerstandskämpferinnen als „Gerechte unter den Völkern“ wurde schließlich eine Familienangelegenheit. Gertrud Schoenberners Neffe Gerhard Schoenberner, damals Leiter des Hauses der Wannseekonferenz, regte die Auszeichnung in Yad Vashem in den 1990er-Jahren an.

Sie retteten drei Leben – und blieben doch unbekannt
Die Frauen konnten einst drei Leben retten. Sie sind dennoch unbekannt geblieben. Ihre Geschichte ist in dieser Hinsicht kein Einzelfall. Die Lebenswege vieler „Gerechter unter den Völkern“ aus Deutschland sind in ihrer Heimat noch heute verborgen. Frauen sind zudem auch mit Blick auf den Widerstand gegen das NS-Regime deutlich weniger bekannt geworden als Männer – wie so oft in der Geschichte.

Die Berlinerin Elisabeth „Lilly“ Wust ist eine Ausnahme. Sie lebte in der NS-Zeit als Hausfrau in Schmargendorf. Ihr Leben wurde unter dem Titel „Aimée und Jaguar“ in den 1990er-Jahren verschriftlicht und verfilmt. Sie ist daher deutlich sichtbarer geworden als viele andere Berlinerinnen, die ebenfalls „Gerechte unter den Völkern“ sind.

Die Schneiderin Stephanie Hüllenhagen ist dafür ein Beispiel. Sie rettete in ihrer Wohnung in Gesundbrunnen eine Jüdin. Zu nennen sind auch Hildegard Schaeder, eine Kirchenhistorikerin aus Wannsee, oder Charlotte Erxleben, die ein Bordell in Mitte besaß und dort auch selbst Sexarbeit leistete, oder Marie Burde, eine Lumpensammlerin aus dem Wedding. Die Namensliste ließe sich ergänzen, auch um die Schoenberner-Frauen.

„Fate: survived“ - viel mehr als das, was die Datenbank der Gedenkstätte Yad Vashem über die weiteren Lebenswege von Gertrud Schoenberner und Anna Schoenberner-Müller berichtet, lässt sich auch über deren Biografie nicht sagen. Details über ihre Familienverhältnisse liegen genauso im Dunkeln wie der Grund für die Adoption von Anna Schoenberner-Müller. Einem Telefonbuch von 1934 zufolge lebten die beiden auch einmal in der Kufsteiner Straße 51 in Schöneberg.

Es gäbe viele Möglichkeiten, die Schoenberners zu ehren
Das Haus in der Kantstraße 159 war auch nach dem Zweiten Weltkrieg eine Ruine. Der Wiederaufbau blieb aus. Die noch erhaltenen Mauern wichen dem „Kaufhaus am Zoo“, eingeweiht im November 1949. Der besagte Bau war die erste „Markthalle“ der Nachkriegszeit in Berlin. Ihr Abriss erfolgte aber bereits nach wenigen Jahren. Der danach errichtete Neubau liegt noch heute dort, wo die Joachimsthaler Straße und die Kantstraße aufeinandertreffen.

Das Haus wurde im November 1956 zum Standort einer „Bilka“-Filiale. Sie stand für freudige Aufbruchstimmung in den Nachkriegsjahren und neue Kauflaune in der Wirtschaftswunderzeit. Das Haus mit der markanten Fassade, ein Wahrzeichen im damaligen West-Berlin, steht unter Denkmalschutz. „Bilka“ hielt sich hier bis in die 1990er-Jahre, gab den Standort dann auf. „Karstadt Sports“ folgte, eröffnete 1996 und blieb für beinahe 25 Jahre. Der inzwischen eingetretene Leerstand des Hauses wird nicht von Dauer sein, das Warenhaus soll zu einem Kulturzentrum umfunktioniert werden.


Es wäre die passende Gelegenheit, Gertrud Schoenberner und Anna Schoenberner-Müller mit einer Gedenktafel zu ehren. Auch Stolpersteine wären eine geeignete Möglichkeit der Erinnerung. Das gilt für Alice Schneider-Didam sowie Mutter und Tochter Jaerschky. Das gilt aber auch für die Schoenberner-Frauen. Die Verlegung erfolgt inzwischen auch für Widerstandskämpferinnen und -kämpfer gegen das NS-Regime.

Die Zahl der Straßennamen und Mahnmale zur NS-Zeit ist in ganz Berlin sehr hoch. Die Zahl der noch fehlenden Erinnerungsorte ist es aber auch. Gedenken kann zudem auf vielfache Weise erfolgen. Gertrud Schoenberner war einst Studienrätin. Sie verweigerte jedoch unter dem Nazi-Terror den Treueeid auf Adolf Hitler. Das NS-Regime zwang sie deshalb bereits 1933 in den Ruhestand. Deshalb käme auch in Betracht, eine Berliner Schule zur „Schoenberner-Schule“ zu machen. Charlottenburg oder Zehlendorf wären dafür die geeigneten Ortsteile. Hier haben die Frauen ihre Rettungstaten vollbracht, hier sollten sie sichtbar sein.

Über den Autor: Nicolas Basse ist Historiker und bloggt unter www.blackundmieze.de über die unbekannten Seiten von Berlin in der NS-Zeit.

Addendum 1 - Die Gerechten unter den Völkern
Yad Vashem, die israelische „Gedenkstätte des Holocausts und des Heldenmuts“, vergibt seit den 1960er-Jahren den Ehrentitel „Gerechte unter den Völkern“. Die Auszeichnung erfolgt für nicht-
jüdische Widerstandskämpferinnen und -kämpfer
, die sich unter den Nazis vor jüdische Mitmenschen gestellt und damit beispiellosen Mut bewiesen hatten. Bis heute wurden weltweit mehr als 28.000 Personen als „Gerechte unter den Völkern“ geehrt.

Addendum 2 - Von den Nazis entfernt: Auch eine Liebknecht-Tafel fehlt
Die Kreuzung der Joachimsthaler Straße mit der Kantstraße „atmet“ viel deutsche Geschichte. Wilhelm Liebknecht (geboren 1826) lebte ebenfalls hier, einer der Gründerväter der SPD. Der Vordenker der Sozialdemokratie wohnte bis zu seinem Tod im Jahr 1900 in der Kantstraße 160. Die hier angebrachte Gedenktafel zu seinen Ehren wurde unter dem Nazi-Terror entfernt. Sie wurde aber nach 1945 nie ersetzt.

„Svenska Victoriaförsamlingen“ - Der Kampf einer Auslandsgemeinde

„Svenska Victoriaförsamlingen“ - Der Kampf einer Auslandsgemeinde

Verschlag um Verschlag ließ der Geistliche zimmern, damit er verfolgte Mitmenschen aufnehmen konnte - in der Kirche, für die er verantwortlich war, ebenso wie im nebenan gelegenen Gemeindehaus. Das Jahr 1933 veränderte unter dem schnell erstarkenden NS-Regime alles im Deutschen Reich - auch für die „Svenska Victoriaförsamlingen“ in Berlin, jene schon traditionsreiche schwedische Kirchengemeinde, die bereits drei Jahrzehnte zuvor in der damaligen Reichshauptstadt gegründet worden war. Birger Forell (* 1893, † 1958), von dem im einleitenden Satz die Rede war, fungierte bereits seit dem Jahr 1929 als ihr Pfarrer.

Das Wirken des schwedischen Geistlichen und seiner beiden Amtsnachfolger sollte sich unter dem NS-Regime als ein besonderer Segen für sehr viele Mitmenschen erweisen, denen die drei Pfarrer das Leben retten konnten. Die Zahl der Verfolgten, die durch die Gemeinde aus dem nationalsozialistischen Deutschen Reich geschleust wurden, konnte auch nach 1945 nie genau ermittelt werden, aber sie war hoch - sehr, sehr hoch. Die Geschichtsforschung geht davon aus, dass mehrere hundert Menschen von ihr aus der Deportation in die nationalsozialistischen Konzentrationslager entgingen, vor allem Jüdinnen und Juden, die in Berlin in den Untergrund gegangen waren. Die Spurensuche führt dabei zuerst in die Zeit der Weltwirtschaftskrise und in den Stadtteil Wilmersdorf.


Berlin im so unruhigen Jahr 1929: Die „Goldenen Zwanziger“ sind gleichsam schon vor dem Ende des Jahrzehnts vergangen - wenn sie denn jemals golden waren. Das Leben sehr vieler Menschen war auch in Berlin ein unbeschreiblich harter Kampf - tagein, tagaus und Jahr für Jahr. Armut und zunehmende Arbeitslosigkeit bestimmten den für zahllose Menschen oftmals elenden Alltag in dem brodelnden Moloch von Reichshauptstadt - und dies in der politisch immer instabiler werdenden Weimarer Republik. Birger Forell trat zu diesem Zeitpunkt seinen Dienst auf der Pfarrstelle der schwedischen Kirche an. Die Gemeinde existierte bereits seit dem Jahr 1903, war zuerst jedoch ohne eigenen Kirchenbau entstanden und hatte deshalb unter dem Obdach mehrerer anderer Kirchengemeinden in Berlin existiert. Die „Victoria“-Kirche konnte schließlich im Stadtteil Wilmersdorf erbaut und im Jahr 1922 eingeweiht werden. Sie war nach der damaligen schwedischen Kronprinzessin benannt worden, also nach Viktoria von Baden (* 1862, † 1930), die in die Dynastie Bernadotte und somit in die schwedische Königsfamilie eingeheiratet hatte.


Heimat eines kirchlichen Bollwerks gegen das NS-Regime: Die Landhausstraße in Wilmersdorf
Die sehr beschauliche Landhausstraße im Stadtteil Wilmersdorf war seit den 20er Jahren die feste Heimat der „Svenska Victoriaförsamlingen“ im damaligen „Groß-Berlin“ - und sie ist es noch immer. Der Kirchturm aus einstiger Zeit sieht auch heute auf die Landhausstraße und ihre nahe Umgebung. Die Gemeinde befindet sich nur wenige Schritte in westlicher Richtung entfernt von der nahegelegenen, parallel verlaufenden Kaiserallee, die erst im Jahr 1950 in Bundesallee umbenannt werden sollte.

Birger Forell, geboren im ostschwedischen Söderhamn am „Bottnischen Meerbusen“, war im Jahr 1919 für sein Theologiestudium in das Deutsche Reich gekommen. Die Zeit als Student hatte ihn nach Tübingen und nach Marburg geführt, also an zwei traditionsreiche theologische „Hochburgen“ unter den protestantischen Universitätsstädten. Der Einschnitt in seinem Lebensweg muss durch den Neuanfang in Berlin im Jahr 1929 sehr tief gewesen sein - und dies nicht nur, weil der raue Alltag der riesigen Metropole mit seinem vorherigen Leben in Tübingen und in Marburg kaum vergleichbar gewesen sein wird. Die Weltwirtschaftskrise bestimmte sein berufliches Handeln auf der neuen Pfarrstelle in sehr konkreter Weise, denn auch viele seiner Landsleute wurden im Berlin der so wechselvollen 20er Jahre erwerbslos und verarmten. Die evangelische Auslandsgemeinde der hier lebenden Schwedinnen und Schweden wurde zu einer kirchlichen Heimstatt vieler verschiedener Hilfen und dabei auch von Spendenleistungen für bedürftige Mitmenschen - und sie wandelte sich ab dem Jahr 1933 zudem zu einem Zentrum des kirchlichen Widerstands gegen das NS-Regime.

Fluchthilfe und viele gerettete Menschenleben seit dem Jahr 1933
Birger Forell lehnte den Nationalsozialismus strikt ab - und entsprechende Kontakte zur regimekritischen „Bekennenden Kirche“, die im Jahr 1934 entstand, knüpfte er bereits zu einem frühen Zeitpunkt. Die Hauptaufgabe seines geistlichen und seines widerständigen Wirkens blieb gleichwohl die „Svenska Victoriaförsamlingen“. Der Geistliche war ein weitsichtiger Mann: Die schon zuvor geleistete Hilfe seiner Gemeinde wurde erweitert, worin Birger Forell erneut voranging. Die Kirche und auch ihr Gemeindehaus wurden durch die schon beschriebenen Baumaßnahmen bald zu einem Versteck für rassistisch und / oder politisch verfolgte Mitmenschen - und insbesondere Fluchthilfe wurde hier organisiert, um aus dem Deutschen Reich zu entkommen. Menschen, die vor der Nazityrannei fliehen mussten (und dabei vor allem Jüdinnen und Juden aus der Reichshauptstadt), kamen im Verlauf der 30er Jahre in immer größerer Zahl in der „Svenska Victoriaförsamlingen“ unter, für einen oder auch für mehrere Tage. Birger Forell führte seinen Kampf gegen das NS-Regime auf vielfache Weise, wobei selbst die hintersten Winkel der Kirchenbauten genutzt wurden: Die vielen neueingezogenen Wände in den Verschlägen, die er hatte einrichten lassen, dienten etwa als Versteck für diverse Dokumente, darunter immer wieder auch Unterlagen der „Bekennenden Kirche“. Jahr für Jahr stellte sich der zupackende Pfarrer vor die zu ihm geflohenen Mitmenschen und organisierte für sie gefälschte Personaldokumente, Lebensmittel und Kleidung - bis das NS-Regime veranlassen konnte, dass er im Jahr 1942 nach Schweden abberufen wurde. Der Geistliche wurde sodann im Jahr 1943 mit der Betreuung von deutschen Kriegsgefangenen in Großbritannien beauftragt - ein Dienst, den er auch nach Ende des II. Weltkrieges weiterhin leistete. Birger Forell, der sich zudem immer wieder für die internationale Flüchtlingshilfe einsetzte, wurde im Jahr 1955 mit dem Verdienstorden der Bundesrepublik Deutschland ausgezeichnet und starb schließlich im Jahr 1958 in seiner schwedischen Heimat.


Erik Perwe (* 1905, † 1944), der aus dem südschwedischen Karlskrona stammte, wurde im Jahr 1942 zum neuen Pfarrer für die schwedische Kirchengemeinde in Berlin ernannt - und er leistete von Anfang an, was schon Birger Forell auf sich genommen hatte. Lebensmittel bekamen die von im versteckten Mitmenschen ebenso wie gefälschte Personaldokumente und gefälschte behördliche Bescheinigungen, um in das Ausland fliehen zu können - fort, nur fort aus dem nationalsozialistischen Deutschen Reich. Zeitzeuginnen und Zeitzeugen erinnerten sich noch mehrere Jahrzehnte danach daran, wie Erik Perwe bisweilen mit einem ganzen Seesack voller gefälschter Reisepässe von seinen Aufenthalten in der schwedischen Heimat nach Berlin zurückkehrte - und wie viele Flüchtlinge in stummer Dankbarkeit zu weinen begannen, wenn seine besonders wertvolle Schmuggelfracht in der Kirchengemeinde verteilt wurde. Monat für Monat verging und die Zahl der erfolgreich geretteten Menschen stieg weiter stetig an.

Hilfe auf verschiedenen Wegen: Polizist Mattick, Polizist Hoffmann und Maria Gräfin von Maltzan
Die Geschichte der schwedischen Auslandsgemeinde in dieser Zeit erfordert aber auch einen kurzen Seitenblick - und dies im wahrsten Wortsinne. Die Geheime Staatspolizei des NS-Regimes hatte die Kirche bzw. das gesamte Gemeindegrundstück (gleichsam ein schwedisches Auslandsterritorium) bereits seit den 30er Jahren und damit seit der Amtszeit von Birger Forell fest im Visier. Die Beobachtungen durch die Gestapo blieben allzu oft jedoch ohne jedes belastbare Ergebnis, auch weil Pfarrer Forell und Pfarrer Perwe zwei Beamte des direkt benachbarten Polizeireviers 155 in der Landhausstraße an ihrer Seite hatten - verborgen zwar, aber fest. Mattick und Hoffmann hießen die Polizisten, die dazu beitrugen, dass sich die Gestapo wieder und wieder vergeblich auf die Lauer legte: Sie ließen den Rollladen am Fenster ihrer Dienststube herunter, sobald die Gestapo die „Svenska Victoriaförsamlingen“ erneut zu observieren begann - ein mit den Pfarrern fest abgesprochenes Zeichen der Warnung.

Die Gestapo nutzte für ihre Beobachtungen eine eigens dafür angemietete Wohnung im Haus direkt gegenüber der „Victoria“-Kirche - und hier befand sich auch das Polizeirevier, in dem wiederholt konspirative Mitarbeit für die Gemeinde geleistet wurde. Mattick und Hoffmann nutzten bisweilen auch ihre Amtsstempel, um durch die Fälschung von behördlichen Schriftstücken zur Fluchthilfe der schwedischen Auslandsgemeinde beizutragen. Die Lebenswege der beiden Polizeibeamten sind nahezu unbekannt geblieben, belegt sind vor allem ihre Familiennamen - und die Tatsache, dass beide im April oder im Mai 1945 in der so blutigen Schlacht um Berlin ihr Leben ließen, kurz vor Ende des II. Weltkrieges.


Die Geschichte der „Victoria“-Kirche in der NS-Zeit ist zudem untrennbar mit Maria Gräfin von Maltzan (* 1909, † 1997) verbunden, die von Pfarrer Myrgren mit hohem Respekt als „Löwin von Berlin“ bezeichnet wurde. Sie lebte keine eineinhalb Kilometer entfernt vom Gemeindegebiet in der Detmolder Straße 11 und damit ebenfalls im Stadtteil Wilmersdorf. Die Gräfin widersetzte sich dem NS-Regime seit frühester Zeit. Sie wirkte nachweislich ebenfalls im Verborgenen und Seite an Seite mit den schwedischen Geistlichen, um jüdische Mitmenschen vor der Deportation in ein KZ zu bewahren. „Operation Schwedenmöbel“ etwa lautete dabei der Deckname einer besonders riskanten, aber erfolgreichen Rettungsaktion. Staatsangehörige des Königreichs Schweden konnten in der NS-Zeit ihren persönlichen Besitz zu verschiedenen Zeitpunkten in ihr Herkunftsland verschicken lassen - auch um diesen im II. Weltkrieg in Sicherheit zu bringen. Die dabei zu beladenden Möbelkisten wurden von der „Svenska Victoriaförsamlingen“ im Jahr 1944 einmal genutzt, um in ihnen Jüdinnen und Juden sowie politisch Verfolgte zu verstecken, die dann nachts statt des eigentlich vorgesehenen Mobiliars heimlich außer Landes gebracht wurden - getarnt als Fracht aus Kreisen der schwedischen Diplomatie. 

Erik Perwe: Tod in der Ostsee
Das Jahr 1944 brachte dann für die Gemeinde einen tödlichen Wendepunkt, der in der ersten Zeit danach zu purer Verzweiflung geführt haben muss: Erik Perwe starb im Herbst in der Ostsee. Das Flugzeug, das ihn zu neuerlichen Beratungen nach Schweden bringen sollte, stürzte ins Meer, wobei alle Insassen den Tod fanden. Abschuss oder Absturz? Die Frage danach konnte auch in den folgenden Jahrzehnten nie mit voller Gewissheit beantwortet werden.

Bedienstete seiner Gemeinde führten sein segensreiches Wirken fort, etwa Erik Wesslén (* 1917 † 1964), als sein Gemeindesekretär ein sehr enger Vertrauter, sowie Franz Reuter (Lebensdaten unbekannt), der in der Gemeinde als Hausmeister arbeitete. Die „Svenska Victoriaförsamlingen“ erwartete zudem schon bald die Ankunft ihres neuen Pfarrers.

Erik Myrgren (* 1914, † 1996) folgte auf der Pfarrstelle im Stadtteil Wilmersdorf alsbald nach - Schwede auch er, zuvor Seemannspfarrer im deutsch besetzten Stettin und wiederum ein festentschlossener Mann. Der Geistliche berichtete in späterer Zeit, dass er bei seiner Ankunft in der Gemeinde auf vieles vorbereitet war, nicht aber darauf, eine Kirche voller versteckt hier lebender Mitmenschen vorzufinden, denen unter dem NS-Regime nach wie vor die Deportation und der Tod im KZ drohten. Erik Myrgren jedoch setzte die bisher geleistete Fluchthilfe umgehend fort und erwies sich darin als ebenso findig wie Pfarrer Forell und Pfarrer Perwe. Güterzüge etwa wurden in seiner Amtszeit zum Versteck, um Jüdinnen und Juden auf Eisenbahngleisen versteckt bis nach Schweden zu bringen.

Der Untergang des NS-Regimes nahte im Jahr 1945 schließlich immer schneller. Erik Myrgren setzte sich damals (und bis zum Ende) weiter für die Rettung jedes einzelnen Mitmenschen ein, der in der „Svenska Victoriaförsamlingen“ beherbergt wurde - und im März 1945 gelang es ihm sogar, mehrere Jüdinnen und Juden auf dem Luftweg in das rettende Ausland bringen zu lassen. Der Flughafen Tempelhof wurde in Berlin dank gefälschter Personaldokumente zum Ausgangspunkt für die Flucht der zuvor versteckten Gruppe, nur wenige Wochen, bevor die Reichshauptstadt von der „Roten Armee“ erobert wurde.


Die „Svenska Victoriaförsamlingen“ blieb dank der drei Geistlichen sowie ihrer Helferinnen und ihrer Helfer von 1933 bis 1945 in ihrem Widerstand gegen den Naziterror ein bis zuletzt unbezwungenes kirchliches Bollwerk. Die Geschichte der Gemeinde in der NS-Zeit ist auch deshalb so bemerkenswert, weil die „Victoria“-Kirche mitten in der damaligen Reichshauptstadt lag: Das Gemeindegebiet befand und befindet sich keine zweieinhalb Kilometer in südlicher Himmelsrichtung entfernt vom Bahnhof „Zoologischer Garten“ bzw. vom benachbarten Kurfürstendamm.

Kriegsende und Nachkriegszeit: Zerstörung und Wiederaufbau der Kirche - und neuerliche Fluchthilfe
Die Wendung, die durch die Schlacht um Berlin folgte, war schließlich von besonders schwerer, zerstörerischer Kraft: Die Kirche hatte im II. Weltkrieg bis zuletzt nur sehr geringen Bombenschaden davongetragen, wurde kurz vor Kriegsende aber von einer marodierenden Truppe der „Roten Armee“ gezielt niedergebrannt - wobei nur der noch heute existierende Glockenturm unbeschadet blieb. Die Nachkriegszeit stand auch für die schwedische Auslandsgemeinde zuerst deshalb ganz im Zeichen des Wiederaufbaus. Pfarrer Heribert Jansson (* 1919, † 1996) leitete die Gemeinde im damaligen West-Berlin seit dem Jahr 1950 und organisierte den Neubau der einst gesprengten „Victoria“-Kirche, der im Jahr 1955 abgeschlossen wurde.

Die Zivilcourage blieb auch unter dem neuen Geistlichen bestehen. Pfarrer Jansson brachte mehrere Mitmenschen nach dem Mauerbau von Ost-Berlin nach West-Berlin und damit in die Freiheit - jeweils versteckt im Kofferraum seines Autos und über den in Berlin so zentral gelegenen „Checkpoint Charlie“. Die Stasi soll ihm zu verschiedenen Gelegenheiten deshalb sogar bis in die Landhausstraße nachspioniert haben. Das SED-Regime sprach schließlich ein Einreise- und ein Durchreiseverbot für das Staatsgebiet der DDR gegen den schwedischen Geistlichen aus, der bis zum Jahr 1986 auf seiner Pfarrstelle im Stadtteil Wilmersdorf blieb. Fluchthilfe aus der DDR leistete die Kirche aber auch weiterhin, da sich mehrere Gemeindemitglieder dazu entschlossen, die geheime Arbeit fortzusetzen - nach dem Vorbild von Heribert Jansson und der anderen Geistlichen, die für die „Svenska Victoriaförsamlingen“ gewirkt hatten.


Ehrungen in Wilmersdorf - und in Yad Vashem

Stille liegt heute an den meisten Tagen über der „Victoria“-Kirche, deren Gemeindehaus immer mit der blau-goldenen schwedischen Nationalflagge verziert ist. Ehrenzeichen bezeugen die so bewegte Vergangenheit der Kirche und ihrer Nachbarschaft. Die Taten von Pfarrer Forell und von Pfarrer Perwe werden schon seit vielen Jahren mit jeweils einer eigenen Gedenktafel am Gemeindehaus gewürdigt - und beide sind vom schmalen Gehweg vor der Kirche aus gut zu sehen. Mattick und Hoffmann, die beiden Polizisten, die in tiefster Not unter dem NS-Regime halfen, sind daneben auf einer Gedenktafel am Eingangsbereich des Gemeindehauses verewigt. Berlin gedenkt des Lebensweges und des Widerstandes von Birger Forell zudem mit einer Grundschule und mit einem Platz, die (ebenfalls in Wilmersdorf) seinen Namen tragen - jeweils nur einen kurzen Spaziergang entfernt von der schwedischen Kirchengemeinde.

Die Geschichte der „Svenska Victoriaförsamlingen“ und ihrer mutigen Geistlichen in der NS-Zeit ist gleichwohl außerhalb der Landhausstraße bzw. außerhalb des Stadtteils Wilmersdorf selbst in Berlin heute weithin unbekannt. Die Tatsache, dass das Gedenken schon seit langer Zeit in Yad Vashem bewahrt wird, ist auch aus diesem Grunde besonders bedeutsam: Erik Perwe und Erik Myrgren wurden beide (anders als Birger Forell) als „Gerechter unter den Völkern“ anerkannt - posthum im Jahr 2006 bzw. noch zu Lebzeiten im Jahr 1986.

Nicolas Basse M. A. - Berlin, im Januar 2023

Literatur
Bautz, Friedrich Wilhelm: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon (BBKL), Band 2, Hamm 1990.

Flohr, Markus: Geheime Fracht nach Schweden, in: „Die Zeit“, Ausgabe vom 21. Januar 2016.

Fraenkel, Daniel / Borut, Jakob (Hgg.): Lexikon der Gerechten unter den Völkern - Deutsche und Österreicher, Göttingen 2005.

Gross, Leonard: The Last Jews in Berlin, New York 1982. 

Hänsel, Heiko: Interventionisten und Genießer, in: ‚taz‘, Ausgabe vom 13. Juni 2003.

Loscher, Klaus: Birger Forell 1893 - 1958. Zum 100. Geburtstag des „Vaters der Kriegsgefangenen und Flüchtlinge“, Bayreuth 1993.

Rückert, Ulrike: „Ich bin zu einem präzisen Gewissen erzogen worden“, im „Deutschlandfunk“ als Feature ausgestrahlt am 25. März 2009.
Quellen online bzw. auf Websites
Ekdahl, Sven: Helfer in der Not - Der humanitäre Einsatz der schwedischen Victoriagemeinde in Berlin während der Nazidiktatur, Berlin 2012 (Vortrag in der „Svenska Victoriaförsamlingen, gehalten aus Anlass der damaligen Raoul-Wallenberg-Ausstellung in Berlin, einsehbar auf der Website der Kirchengemeinde.

Website https://righteous.yadvashem.org/, Datenbank der „Gerechten unter den Völkern“ der Gedenkstätte „Yad Vashem“: Einträge zu Erik Perwe und zu Erik Myrgren.

Website https://www.berlin.de/, Einträge zur „Svenska Victoriaförsamlingen“ sowie zur Gedenktafel für Birger Forell und zur Gedenktafel für die ihm helfenden Polizisten.

Website https://svenskakyrkan.se/berlin der „Svenska Victoriaförsamlingen“, Eintrag zur Geschichte der Kirchengemeinde.

Aloisia Tirsch-Kastner, Gerta Bartels, Elsa Danziger und ein Versteck in der Wilhelmsaue

Aloisia Tirsch-Kastner, Gerta Bartels, Elsa Danziger und ein Versteck in der Wilhelmsaue

"Lisl" lautete ihr Spitzname, auch im Berufsleben - und darin war sie über lange Jahre hinweg eine
erfolgreiche Schauspielerin. Aloisia Tirsch-Kastner (* 1894, † 1984) spielte in den 20er Jahren an
verschiedenen Reinhardt-Theatern in Berlin und hatte schließlich mehrere Engagements in
hauptstädtischen Varietés, begleitet von guten Kritiken. Das "Berliner Theater", bekannt vor allem für Operette, unter dem NS-Regime zwangsweise zum "Theater des Jüdischen Kulturbundes" erklärt und
im Jahr 1935 geschlossen, war zudem eine der bekanntesten Bühnen, auf denen Aloisia Tirsch-
Kastner in den frühen 20er Jahren oft zu sehen war.

Sie war seit dem Jahr 1925 in dessen zweiter Ehe mit Bruno Kastner (* 1890, † 1932) verheiratet, der als "der schöne Bruno" zu den beliebtesten Stummfilmstars der damaligen Zeit gehörte. Die
Beziehung des Paares jedoch endete nach wenigen Jahren schrecklich, als sich Bruno Kastner im
Sommer 1932 und im Alter von nur 42 Jahren durch den Strang das Leben nahm - auch weil er sich
nie ganz von den Folgen eines schweren Motoradunfalls aus dem Jahr 1924 erholt hatte.

Schauspielerin - und Widerstandskämpferin
Aloisia Tirsch-Kastner wirkte auch weiterhin als Schauspielerin. Sie wurde nach dem Ende des NS-
Regimes wiederholt von der DEFA engagiert und kehrte zudem zum Theater zurück - und Rollen in
Kinofilmen und in Fernsehproduktionen folgten ebenfalls. Die Zahl ihrer Engagements, zu denen auch
mehrere Sprechrollen in Hörspielen gehörten, nahm seit dem Ende der 50er Jahre jedoch ab, weshalb
sie schließlich in Existenznot auf (finanzielle) Hilfe angewiesen war. Sie verstarb im Jahr 1984 im
damaligen West-Berlin. "Lisl" war tot, nachdem sie bereits zuvor in Vergessenheit geraten war - und
dies ist noch heute bitter, weil der Lebensweg der lange erfolgreichen Schauspielerin auch abseits
ihres künstlerischen Wirkens sehr bemerkenswert ist: Aloisia Tirsch-Kastner war Widerstandskämpferin gegen das NS-Regime gewesen und hatte dabei in Berlin u. a. sehr wertvolle
Hilfe für ein lesbisches Paar aus ihrer Nachbarschaft im Stadtteil Wilmersdorf geleistet.


Leben und Liebe zweier Frauen

Gerta Bartels (* 1893, † 1968) war Bibliothekarin, Elsa Danziger (Lebensdaten unbekannt) war
Lehrerin - und beide waren ein Paar. Die Frauen lebten seit dem Jahr 1917 unter einer heute nicht
mehr bekannten Adresse gemeinsam in Wilmersdorf, das am 1. Oktober 1920 in das damalige "Groß-
Berlin" eingemeindet und so zu einem neuen Stadtteil der damaligen Reichshauptstadt wurde.

Details über die Lebenswege der beiden Frauen sind lediglich in geringer Zahl bekannt geworden,
doch ist belegt, dass sie unter dem rasch sich etablierenden NS-Regime von Anfang an gezielt
diskriminiert wurden. Frau Bartels wurde im Jahr 1934 zwangsweise versetzt - und daneben wurde ihr
jede berufliche Beförderung dauerhaft verweigert. Frau Danziger wurde im Jahr 1939 aus ihrem Beruf
verstoßen - und erst nach dem Ende des NS-Regimes wirkte sie erneut als schulische Lehrkraft.

Anfeindungen waren Frau Bartels und Frau Danziger unter dem Naziterror als lesbisches Paar, aber
auch wegen des rassistischen Weltbildes des immer stärker werdenden Nationalsozialismus
ausgesetzt: Elsa Danziger war Christin, galt jedoch in der Zeit des NS-Regimes wegen ihrer jüdischen Wurzeln als "nicht-arisch", was konkrete Gefahr für ihr Leben bedeutete. Der Deportationsbescheid gegen sie wurde im April 1942 ausgestellt - und es schlug die Stunde, in der sie innerhalb Berlins "untertauchen" musste.

Aloisia Tirsch-Kastner: Kampf gegen die Nazis nach Mitgliedschaft in der NSDAP
Gerta Bartels brachte ihre Lebensgefährtin zu der mit ihr befreundeten Aloisia Tirsch-Kastner. Die
Schauspielerin lebte in der Wilhelmsaue 128 - und damit innerhalb des Stadtteils Wilmersdorf nur
unweit entfernt von Frau Bartels und Frau Danziger. Sie nahm die rasch zu ihr geflüchtete Nachbarin
sofort bei sich auf und versteckte sie über einen Zeitraum von etwa vier oder fünf Wochen. Die Hilfe,die sie leistete (und mit der sie ihr Leben riskierte), zeugte von beeindruckendem Mut und war zudem wegen des damit verbundenen Wandels auf ihrem Lebensweg sehr bemerkenswert: Aloisia Tirsch-Kastner war bis zum Jahr 1938 in der NSDAP gewesen, hatte die Partei dann aber verlassen und war in den Widerstand gegangen.


Gerta Bartels wurde von der Gestapo vernommen, nachdem Elsa Danziger verschwunden war. Sie
sagte dabei aus, dass ihre Lebensgefährtin beschlossen hätte, sich das Leben zu nehmen - eine
Behauptung, die sie gegenüber der Geheimen Staatspolizei mit einem entsprechend fingierten
Abschiedsbrief glaubhaft zu machen versuchte. Die vorerst versteckte Elsa Danziger kehrte nach
wenigen Wochen von Aloisia Tirsch-Kastner zu Gerta Bartels zurück und lebte von nun an dauerhaft
im Verborgenen bei ihrer Lebensgefährtin, die zudem ihre sehr knapp bemessenen Lebensmittelrationen mit ihr teilte - bis zum Ende II. Weltkrieges. Das Paar und auch die Schauspielerin, die ihm zur Seite gestanden hatte, überlebten das NS-Regime - und die Anerkennung für ihre Taten unter dem Naziterror folgten beinahe eineinhalb Jahrzehnte nach dessen Ende: Gerta Bartels und Aloisia Tirsch-Kastner wurden im Jahr 1959 beide in der „Unbesungene Helden“-Initiative des Senats im damaligen West-Berlin ausgezeichnet.

Gerta Bartels hatte sich dem NS-Regime sehr entschlossen widersetzt - und dies u. a., indem sie
nach den antisemitischen Pogromen vom 9. November 1938 zeitweise drei Juden bei sich
aufgenommen und in späterer Zeit einer geflohenen Frau mit gefälschten Personaldokumenten
geholfen hatte. Aloisia Tirsch-Kastner hatte außer Elsa Danziger zeitweise auch mehrere andere
verfolgte Mitmenschen bei sich versteckt und zudem mit Lebensmitteln versorgt und war unter dem
Naziterror nach eigenen Angaben wiederholt von der Geheimen Staatspolizei vernommen worden.

Fallbeispiel des ausgebliebenen Gedenkens: Die Wilhelmsaue 128
Die Wilhelmsaue liegt auch heute im Herzen des Stadtteils Wilmersdorf und ist vor allem wegen der
traditionsreichen Auenkirche bekannt, deren Kirchturm aus dem einstigen Dorfanger herausragt und u.
a. am Ende des ersten Romankapitels von "Irrungen, Wirrungen" (1887 / 88) von Theodor Fontane
erwähnt wird. Das mehrgeschossige, alte Mietshaus in der Wilhelmsaue 128 liegt in aller Stille im
Schatten des besagten Kirchturms - und nichts erinnert hier an die Geschichte von Gerta Bartels und
von Elsa Danziger und von Aloisia Tirsch-Kastner, eine Gedenktafel oder anderweitige Ehrung gibt es
nicht.


Die Spurensuche nach den Lebenswegen der drei Frauen gestaltete sich entsprechend schwierig -
und während die Heimatadresse von Frau Bartels und von Frau Danziger innerhalb des Stadtteils
Wilmersdorf unbekannt geblieben ist, findet sich die Wilhelmsaue 128 als Wohnort der Schauspielerin, die ihnen half, nur noch in alten hauptstädtischen Telefonbüchern. Die Zahl der Gedenktafeln in ganz Berlin ist mit Blick auch und gerade auf die NS-Zeit sehr hoch, jedoch gilt dies auch für die Zahl der noch fehlenden Gedenktafeln - und dies zeigt sich auch mit Blick auf das beschriebene Haus im Stadtteil Wilmersdorf.

Nicolas Basse M. A. - Berlin, im Juli 2023

Quellen online bzw. auf Websites
Website http://deutsche-filme.com von Sebastian Kuboth: Eintrag zu Aloisia Tirsch-Kastner.

Website https://www.gedenkstaette-stille-helden.de der Gedenkstätte Stille Helden: Einträge zu Gerta
Bartels
und zu Elsa Danziger.

Christine Freifrau von Trümbach - Schauspielerin und Fluchthelferin

Christine Freifrau von Trümbach - Schauspielerin und Fluchthelferin

Der Lebensweg ist weithin unbekannt geblieben - abgesehen von ihrem filmischen Wirken, denn Christine Freifrau von Trümbach (* 1900, † 1979) war Schauspielerin und über mehrere Jahrzehnte hinweg vor der Kamera sehr erfolgreich in vielen Nebenrollen und kurzen Auftritten. „M - Eine Stadt sucht einen Mörder“ (1931) von Fritz Lang (* 1890, † 1976) war der bekannteste Film, bei dessen Dreharbeiten sie mitwirkte - wobei sie sich jedoch schwer verletzte und von ihrem Unfall erst nach und nach erholte. Die Karriere beim Film nachzuzeichnen, ist wegen einer geringen Zahl an gesicherten Lebensspuren dennoch schwierig - und noch unbekannter ist (leider) eine sehr, sehr bemerkenswerte Lebensleistung der Mimin geblieben: Christine von Trümbach ging unter dem Naziterror in den Widerstand und leistete lebensrettende Hilfe für mehrere jüdische Mitmenschen.

Schauspielkarriere statt Klosterleben
Der Weg einer leidenschaftlichen Rebellin, bestimmt von rauschender Lebenslust - so wirkt es im Blick auf die wenigen gesicherten Fakten, die über die Schauspielerin bekannt geworden sind. Christine von Trümbach wurde in Essen geboren, war also ein Kind des Ruhrgebiets. Die Lebensplanung der Eltern für sie stand bereits zu einem frühen Zeitpunkt sehr fest: Nonne sollte sie werden. Der Ausbruch folgte - aus der Familie und aus der Heimat: Christine von Trümbach heiratete auch deshalb bereits in jungen Jahren, um dem für sie vorgesehenen Ordensleben zu entgehen - und sie lebte danach zeitweise in Paris. Die Welt der boomenden Kinos zog sie bald in ihren Bann - und deshalb führte ihr Weg schließlich nach Berlin. Sie ging im Jahr 1928 in die damalige Reichshauptstadt, wo sie zuerst zu fliegen lernte, bevor sie sich beim Film bewarb - mit Erfolg. Komparsin wurde ihr erster Beruf vor der Kamera, bevor sie auch Nebenrollen zu spielen begann.


Die zum genannten Zeitpunkt in vielfacher Hinsicht bereits brodelnde Reichshauptstadt blieb ihre Heimat - und der Naziterror griff ab dem Jahr 1933 immer tiefer in die Welt des Films ein, wie auch Christine von Trümbach miterlebt haben muss. „Männer müssen so sein“ (1939) von Arthur Maria Rabenalt (* 1905, † 1993) war eine der bekanntesten Produktionen, für die Christine von Trümbach in der NS-Zeit engagiert wurde. Sie mimte darin eine Zirkusbesucherin und konnte sich gewiss mit der Hauptrolle identifizieren, die mit Hertha Feiler (* 1916, † 1970) besetzt worden war. Feiler, die im Jahr 1939 den schon lange berühmten Heinz Rühmann (* 1902, † 1994) heiratete, spielte eine junge Frau, die mit ihrem Vater brach, weil er ihr verbieten wollte, Balletttänzerin zu werden. Sie jedoch setzte ihren Willen durch und wurde als „La belle Beatrice“ bekannt, die in Zirkusdarbietungen zwischen Tigern zu tanzen pflegte. Der Revuefilm diente der Unterhaltung, doch ist bemerkenswert, dass Hertha Feiler für die Hauptrolle vor der Kamera stehen konnte: Die Schauspielerin galt in der rassistischen Weltsicht des NS-Regimes als so genannte „Vierteljüdin“ und durfte deshalb unter dem Naziterror nur mit einer Sondergenehmigung ihrem Beruf nachgehen. Die Kontakte ihres einflussreichen Ehemannes und ihrer selbst zu Joseph Goebbels (* 1897, † 1945) waren dabei die wesentliche Hilfe, da der nationalsozialistische „Scharfmacher“ bereits seit dem Jahr 1933 das (damals neue) „Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda“ (RMVP) leitete. Die „Zentrale Filmprüfstelle“ unterstand ihm deshalb ebenso wie die staatliche Reichskulturkammer (RKK) und die staatliche Reichsfilmkammer (RFK), bei denen er jeweils als Präsident fungierte.

Arthur Maria Rabenalt wiederum, der für „Männer müssen so sein“ die Regie geführt hatte (und der zuvor bereits an der Entstehung von „M - Eine Stadt sucht einen Mörder“ beteiligt gewesen war), arrangierte sich auf seine Weise mit dem NS-Staat: Die Zusammenarbeit mit Leni Riefenstahl (* 1902, † 20023) bestimmte sein filmisches Wirken in den folgenden Jahren des II. Weltkrieges.

Kontakt zu Adolf Eichmann - und Widerstand
Die zuvor beschriebenen Entwicklungen blieben auch Christine von Trümbach nicht verborgen. Details über das Leben der Schauspielerin in der NS-Zeit sind in sehr geringer Zahl bekannt, eindeutig belegt ist aber, dass sie sich auf besondere Weise für verfolgte jüdische Mitmenschen einsetzte - und zwar durch Kontakte zu führenden Nationalsozialisten. Die Schauspielerin war mit verschiedenen Nazigrößen bekannt - u. a. mit Adolf Eichmann (* 1906, † 1962), der als SS-Oberstammbannführer und Leiter des Referats IV D 4 bzw. IV B 4 im nationalsozialistischen Reichssicherheitshauptamt (RSHA) die systematischen Massendeportationen der jüdischen Bevölkerung in Ghettos und in Konzentrationslager organisierte und umsetzte. Die Schauspielerin nutzte daher ihre Beziehungen, um es einigen Jüdinnen und Juden zu ermöglichen, in Berlin „unterzutauchen“. Die Namen und auch die Zahl der jüdischen Mitmenschen, denen sie half, sind unbekannt geblieben, aber fest steht: Christine von Trümbach unterstützte sie beim entscheidenden Schritt zur Flucht in den widerständigen Untergrund der damaligen Reichshauptstadt.

Schauspielerin auch nach 1945 - und „Unbesungene Heldin“
Das Wirken der Schauspielerin im Widerstand wurde deshalb nach dem Ende der NS-Zeit in besonderer Weise anerkannt: Christine von Trümbach wurde im „Unbesungene Helden“-Programm (1958 - 1966) des Senats im damaligen West-Berlin ausgezeichnet. Sie hatte zu diesem Zeitpunkt bereits ihre filmische Karriere fortsetzen können und war seit den frühen 50er Jahren für mehrere DEFA-Produktionen engagiert worden sowie für „Der eiserne Gustav“ (1958) mit Heinz Rühmann in der Hauptrolle. Christine von Trümbach hatte in einem der bekanntesten Filme des so prominenten Schauspielkollegen in einer kurzen Szene eine Zeitungsverkäuferin gespielt.


Der Weg nach dem Ende ihres beruflichen Wirkens und bis in das greise Alter kann mit wenigen Worten zusammengefasst werden: Christine von Trümbach lebte zurückgezogen und starb im Jahr 1979, ebenfalls im damaligen West-Berlin. Die Akten des „Unbesungene Helden“-Programms geben Auskunft über ihren einstigen Wohnort. Sie hatte in der Pfalzburger Straße 84 im Stadtteil Wilmersdorf gelebt, wo jedoch noch heute nichts an die Schauspielerin und ihren Widerstand gegen das NS-Regime erinnert - keine Gedenktafel und keine anderweitige Ehrung. Die Anerkennung, die ihr vor langen Jahrzehnten zuteil wurde, wird eines Tages hoffentlich auch in der hauptstädtischen Gedenkkultur sichtbar werden, denn was Christine von Trümbach für mehrere jüdische Mitmenschen leistete, war weit bedeutender als jedes erfolgreiche Engagement in der Welt des Films.

Nicolas Basse M. A. - Berlin, im Oktober 2023

Literatur
Akten- und Archivbestand des „Unbesungene Helden“-Programms des Senats von West-Berlin (1958 bis 1966).

Kwiet, Konrad / Eschwege, Helmut: Selbstbehauptung und Widerstand - Deutsche Juden im Kampf um Existenz und Menschenwürde 1933 - 1945, Hamburg 1984.

Riffel, Dennis: Unbesungene Helden - Die Ehrungsinitiative des Berliner Senats 1958 bis 1966, Berlin 2007.

Susanne Witte - „..., sorge Du für meine Mutter“

Susanne Witte - „..., sorge Du für meine Mutter“

Sie bezeichnete ihre Tat nach der NS-Zeit immer als „selbstverständlich“ (und dies bis an ihr Lebensende), doch selbstverständlich war keineswegs, was sie unter dem Naziterror geleistet hatte - auch nicht für eine selbstlose Frau wie sie, die sich auf ihrem Lebensweg immer von den Wertvorstellungen des christlichen Glaubens hatte leiten lassen. Mut war eine sehr wesentliche Charaktereigenschaft jener ebenso besonnenen wie zupackenden Frau, die im Jahr 1998 (und damit im greisen Lebensalter) von Yad Vashem als „Gerechte unter den Völkern“ ausgezeichnet wurde. Susanne Witte (* 1905, † 2005) war unter dem NS-Regime in den Widerstand gegangen und hatte in ihrer Wohnung einer Jüdin das Leben gerettet, genauer gesagt: der Mutter einer deportierten Freundin. Die Spurensuche nach der hiermit bereits zusammengefassten Geschichte führt in das nördliche Berlin, wo sich die Lebenswege jener sehr ungleichen Frauen inmitten des II. Weltkrieges auf nicht vorhergesehene Weise vereinigten - zum Glück.

Christin auf der Suche - und im Widerstand
Details zum Lebensweg von Susanne Witte sind in lediglich geringer Zahl belegt, jedoch ist klar: Die Verbundenheit zu Gott und zur römisch-katholischen Kirche wies ihr immer wieder den Weg - und dies bereits seit früher Kindheit. Sie wurde in Berlin geboren und wuchs im (durchaus rauen) Stadtteil Moabit der damaligen Reichshauptstadt auf. Die St.-Paulus-Gemeinde des Dominikanerordens in der Waldenserstraße ihres heimatlichen Kiezes wurde schon früh zu einem Mittelpunkt ihres Lebensalltags. Die Bedeutung des christlichen Glaubens wurde sodann auch zu einer wesentlichen Voraussetzung für ihren beruflichen Werdegang: Susanne Witte wirkte seit jungen Jahren als römisch katholische Sozialarbeiterin bzw. als „Fürsorgerin“, wie die damalige Berufsbezeichnung lautete - ein Begriff, den sie offenbar als lebenslange Berufung empfunden hat. Sie blieb ihrem Stadtteil Moabit bis zuletzt verbunden, heiratete nie und lebte für lange, lange Jahre in der Putlitzstraße 17, unweit des industriellen Westhafens.


Die schriftliche Nachricht einer einstigen Arbeitskollegin veränderte in der NS-Zeit schließlich alles im Leben von Susanne Witte. Ruth Casper (Lebensdaten unbekannt) war mit ihr seit der gemeinsam durchlaufenen Ausbildung in der Sozialarbeit gut befreundet. Sie galt in der rassistischen Weltsicht des NS-Regimes als Jüdin, obwohl sie bereits im Jahr 1926 vom jüdischen zum christlichen Glauben konvertiert war. Frau Casper wurde daher unter dem NS-Regime gejagt und im Sommer 1942 deportiert - und die letzte Bitte, die sie gegenüber ihrer guten Freundin in einem Abschiedsbrief äußerte, galt der Versorgung ihrer engsten Familienangehörigen. „Ich bin auf dem Weg, sorge Du für meine Mutter“, las Susanne Witte in jenen wenigen Zeilen, die sie als letztes Lebenszeichen von ihrer Freundin erhielt. Ruth Casper wurde schließlich im KZ Auschwitz ermordet.

Die Suche nach der ihr unbekannten Frau führte die redliche Susanne Witte im Jahr 1942 zuerst in ein so genanntes „Judenhaus“ nahe dem Bayerischen Platz im Stadtteil Schöneberg von Berlin, wo sie die schon betagte Dame sogleich antraf und danach bei lediglich sehr kurzen Begegnungen mehrfach mit Lebensmitteln versorgte. Die Deportationen trafen bald auch die Bewohnerinnen und Bewohner des "Judenhauses", das Susanne Witte wiederholt aufsuchte, doch konnte die von ihr unterstützte Jüdin der Verschleppung in ein KZ entgehen - versteckt in einem Kelleraum. Sie flüchtete danach gleichwohl an mehrere andere Orte im widerständigen Untergrund und die Wege der beiden Frauen trennten sich vorerst. Die Zeit verging, ohne dass Susanne Witte ein einziges Indiz von der vorerst verschwundenen Dame ausmachen konnte. Monat um Monat blieben die damit verbundenen Ungewissheiten bestehen - und die nachforschende Fürsorgerin kannte zudem kaum mehr als den Namen jener ihr noch unbekannten Jüdin, die zu versorgen der Herzenswunsch von Ruth Casper gewesen war: Regina Kirschbaum (geb. 1879, gest. 1957) hieß die Mutter der deportierten Freundin.

„Kann ich bei Ihnen bleiben?“
Der Zufall und das pure Glück halfen ihr schließlich - und dies auf nach wie vor verschlungenen Pfaden. Susanne Witte berichtete in viel späterer Zeit, sie habe im Jahr 1943 einen Hinweis darauf erhalten, dass der von ihr so sehnlich gesuchte Mitmensch von der Geheimen Staatspolizei in einem hauptstädtischen Hotel festgehalten werde. Regina Kirschbaum, geschiedene Casper, die ausgebildete Kammersängerin war, befand sich hier in nationalsozialistischer Gefangenschaft mit einer Gruppe weiterer jüdischer Künstlerinnen und Künstler, denen ebenfalls die Deportation drohte. Details der nun begonnenen Rettungstat sind kaum zu rekonstruieren: Der Hinweis eines Portiers des (namentlich unbekannt gebliebenen) Hotels an Susanne Witte lautete, dass Regina Kirschbaum es geschafft habe, sich in einem Kellerraum des Hauses zu verstecken - und dies erwies sich als zutreffend.


Die schon zuvor „untergetauchte“ Jüdin konnte sich dann erneut im widerständigen Untergrund verstecken, stand sie doch am Abend jenes Tages, an dem sie von Susanne Witte endlich gefunden worden war, vor der Wohnungstür ihrer Helferin in der Not. „Kann ich bei Ihnen bleiben?“, lautete die entscheidende Frage der von der Deportation noch immer bedrohten Jüdin - und Susanne Witte bejahte ihr Anliegen. Die Frauen kannten einander nach wie vor kaum, doch nahm die gläubige Fürsorgerin die zu ihr geflüchtete Künstlerin umgehend bei sich auf. „Ich wollte einfach helfen“, sagte die widerständige Sozialarbeitein mit dekbar knappen Worten über ihre Rettungstat, als sie mehrere Jahrzehnte danach in Yad Vashem als "Gerechte unter den Völkern" anerkannt wurde. Sie versteckte und versorgte Regina Kirschbaum bis zum Ende des NS-Regimes in ihrer Wohnung, wobei mehrere Freundinnen und Freunde ihr zur Hand gingen, die damit ihr Leben riskierten - ebenso wie Susanne Witte selbst. Der römisch-katholische Priester Ernst Thrasolt (* 1878, † 1945) half ihr zudem mit Lebensmittelmarken und der Zusage für ein weiteres Versteck, falls Regina Kirschbaum die Wohnung in der Putlitzstraße 17 hätte verlassen müssen.

Kraft schöpften die beiden gläubigen Frauen aus ihrer jeweiligen Religion, die zwischen ihnen zudem immer wieder zum Gesprächsthema wurde. Susanne Witte erinnerte sich auch nach langer Zeit noch sehr deutlich daran, dass Regina Kirschbaum ihr einst gesagt habe: „Wir glauben doch beide an denselben Gott“ - und die Zuversicht, dass dieser sie beschützen werde, erwies sich bis zum Ende des NS-Regimes in vielen gemeinsam durchlebten, dunklen Stunden als sehr wesentliche Hilfe. Die versteckte Jüdin achtete zudem auch in der Verborgenheit der kleinen Wohnung der so entschlossenen Widerstandskämpferin strikt darauf, den Sabbat und weitere jüdische Feiertage zu begehen.

Fürsorgerin bis an ihr Lebensende
Das gegenseitig sich unterstützende Frauenpaar überlebte schließlich den Naziterror und den II. Weltkrieg. Die Lebenswege der beiden Frauen sind auch in den folgenden Jahrzehnten bzw. bis zuletzt weithin unbekannt geblieben, doch ist belegt, dass Regina Kirschbaum nach dem Ende des NS-Regimes nach London auswanderte. Die beiden älteren Töchter der geretteten Kammersängerin hatten (anders als Susanne Witte) vor dem NS-Regime in die britische Hauptstadt fliehen können - und hier erfolgte in der Nachkriegszeit das Wiedersehen mit ihrer Mutter. Das Ende war gleichwohl bitter: Regina Kirschbaum war durch die verschiedenen Entbehrungen und die Angst der vorangegangenen Jahre zu einer psychisch gebrochenen Frau geworden. Sie wurde schließlich in einer Nervenheilanstalt behandelt und verstarb im Sommer 1957 im britischen Exil.

Die Töchter hielten für lange Zeit den Kontakt zu Susanne Witte, schrieben voller Dankbarkeit noch zahlreiche Briefe an „die Susi“ im fernen Berlin. Die Retterin wiederum blieb sich treu, stellte sich als Sozialarbeiterin auch weiterhin in den Dienst ihrer Mitmenschen - und dies für lange Jahrzehnte bzw. auch nach dem Ende ihres Berufslebens. Sie gründete noch an ihrem Lebensabend die Altentagesstätte ihrer kirchlichen Heimatgemeinde St. Paulus in Moabit. Sie leitete diese Einrichtung mit ehrenamtlicher Tatkraft bis fast an ihr Lebensende im Jahr 2005, als sie einige Wochen vor ihrem 100. Geburtstag aus dem Leben schied. Die Bibel sagt in der Genesis von Abraham, er sei „alt und lebenssatt“ (1. Mose 25,8) verstorben - und dies wird vermutlich auch auf Susanne Witte zugetroffen haben, deren Rettungstat unter dem NS-Regime an ihrem einstigen Wohnhaus, nebenbei bemerkt, undokumentiert geblieben ist.

Die Schilderung der gemeinsamen Geschichte von Frau Witte und von Frau Kirschbaum erfordert zum Abschluss einen Blick auf die nahe Umgebung der Putlitzstraße 17. Die Wohnung der Widerstandskämpferin befand sich in Sichtweite des damaligen Güterbahnhofs Moabit, der zwischen 1942 und 1944 zum Ausgangspunkt für die Deportation von ca. 32.0000 Jüdinnen und Juden in mehrere Konzentrationslager und Ghettos des NS-Regimes im östlichen Europa wurde. Der Anblick der von hier aus verschleppten Menschenmassen blieb auch den beiden Frauen nicht verborgen - und das mehrgeschossige Mietshaus, in dem sie miteinander lebten, befindet sich heute in Sichtweite des so markanten Deportationsmahnmals Putlitzbrücke, das im Jahr 1987 im damaligen West-Berlin eingeweiht wurde.

Nicolas Basse M. A. - Berlin, im Juli 2024

Literatur
Fraenkel, Daniel / Borut, Jakob (Hgg.): Lexikon der Gerechten unter den Völkern - Deutsche und
Österreicher
, Göttingen 2005.
Quellen online bzw. auf Websites
Berliner Zeitung, Ausgabe vom 4. März 1999: „Botschafter Avi Primor übergibt im Namen der Gedenkstätte Yad Vashem Medaillen / Rund 400 Deutsche ausgezeichnet: Israel ehrt Berliner als ‚Gerechte unter den Völkern‘“ [Publikation ohne Autorenangabe].

Burkart, Margret / Gasper, Hans: Chain of preachers of hope: Susanne Witte. [Publikation auf der Website der Dominikanischen Laiengemeinschaft der süddeutsch-österreichischen Provinz vom 16. Februar 2017.]

Gessler, Philipp: „Das war doch selbstverständlich“, in: ‚taz. am Wochenende‘, Ausgabe vom 13. Februar 1999.

Schmeiser, Norbert Habakuk: Susanne Witte - Gerechte unter den Völkern - Todestag am 27. 01. 2005. [Publikation auf der Website der Dominikanischen Laiengemeinschaft der süddeutsch-österreichischen Provinz vom 1. Februar 2021.]

Podcast „Clever Girls“ des „rbb Kultur“: Folge „Stille Heldin: Susanne Witte versteckt Jüdin in ihrer Wohnung“ vom 7.November 2020.

Website https://righteous.yadvashem.org/, Datenbank der „Gerechten unter den Völkern“ der Gedenkstätte „Yad Vashem“: Eintrag zu Susanne Witte.

Herta Zerna - Widerstand durch das einst „schönste Mädchen von Berlin“

Herta Zerna - Widerstand durch das einst „schönste Mädchen von Berlin“

Die Zeitschrift „Der Junggeselle“ (und damit das erste erotische Herrenmagazin der deutschen Zeitgeschichte) bewertete die Kurzgeschichte, mit der sie sich als potenzielle Autorin vorgestellt hatte, als „viel zu keck“. Die so prominente Publizistin, die sie geschrieben hatte, war es jedoch bereits seit jungen Jahren gewohnt, ihren eigenen Weg zu gehen und sich dabei mit viel Tatkraft immer wieder neuen Herausforderungen zu stellen - auch gegen manch widrigen Umstand, der sie begleitete.

Herta Zerna (* 1907, † 1988), deren Lebensweg der einleitende Textabsatz andeutete, war Journalistin - wobei dieses Berufsziel, das sie sich schon in jugendlicher Zeit gesetzt hatte, für ihren Lebensweg keineswegs vorgezeichnet zu sein schien. Die Geschichte der politischen Publizistin führt auf der Suche nach ihrem Anfang in das nördliche Berlin bzw. in den Stadtteil Moabit und damit in eine alte „Arbeitajejend.“ Die Tochter eines Fabrikschlossers, der in der SPD engagiert war, wuchs in einem mehrgeschossigen Mietshaus in der Rostocker Straße 28 auf - und der raue Kiez rund um den nahegelegenen, industriellen Westhafen war ihre Heimat seit der Geburt.


„Kleines, Sie können schreiben“

Der Ehrgeiz war ihre hervorstechende Charaktereigenschaft, wie sich zu einem frühen Zeitpunkt zeigen sollte. Herta Zerna schloss die Mädchenrealschule mit der „Mittleren Reife“ ab und fand danach bei einer Import-Export-Firma bereits im Alter von 15 Jahren ihre erste Anstellung - und sie nahm zugleich Französischstunden, nachdem sie die Schule bereits beendet hatte. Sie verdiente sich neben ihrem Berufsleben deshalb schon bald ein Zubrot, indem sie Reportagen aus verschiedenen Modemagazinen der 20er Jahre in die deutsche Sprache übersetzte. Das Lob einer vorgesetzten Redakteurin fiel dabei ebenso herzlich wie kernig aus: „Kleines, Sie können schreiben“, bekam sie eines Tages zu hören - und nach und nach fand Herta Zerna den Weg in das mediale Berufsfeld.

Ambitionen hatte sie gleichwohl auch in anderer Hinsicht. Schriftstellerin wollte sie werden, was ihr in viel späterer Zeit auch gelingen sollte. (Der Roman „Es lag bei Rheinsberg“, in erster Auflage im Jahr 1953 erschienen, wurde ihr erstes Buch und ihr bekanntestes Werk.) Die schon zuvor berichtete Ablehnung ihrer ersten Kurzgeschichte spornte sie in viel früherer Zeit zudem dazu an, auch weiterhin zu schreiben, dies vorerst aber wiederum als Journalistin - und so arbeitete Herta Zerna in den späten 20er Jahren in Berlin für die „Filmwoche“ und absolvierte zudem ein Volontariat beim „Spandauer Volksblatt“, das der SPD nahestand. Die Bildquelle, die mit Blick auf den gesamten Lebensweg von Herta Zerna bis heute am bekanntesten geblieben ist, entstand in dieser wechselvollen Zeit. Das Portraitfoto, von dem sie selbst noch oft berichtete, es zeige sie in ihrem „Josephine-Baker-Look“, stammt aus dem Jahr 1928. Das Bild zeigt eine sehr attraktive, junge Frau mit kurzem, modischen Haarschnitt, die aus sanften Augen mit großer Ruhe in die Weite blickt. Herta Zerna galt damals (was in der oftmals sehr, sehr rauen „Muddastadt“ heute kaum noch bekannt ist) als „das schönste Mädchen von Berlin“.


Sie ging von jungen Jahren an in vielfacher Hinsicht einen mehr als bewegten Lebensweg: Der Glaube an eine sozialdemokratische Gesellschaft bestimmte ihr journalistisches Wirken - und wieder und wieder auch der Kampf für die Frauenrechte. Sie brach zudem mit mancher damaligen gesellschaftlichen Konvention - etwa, indem sie die meiste Zeit ungebunden lebte und dies auch blieb, nachdem ihre einzige feste Beziehung im Jahr 1933 beendet war. Arkadij Gurland (* 1904, † 1979), geboren in Russland, hatte als sozialistischer Publizist im Deutschen Reich gelebt - und die jahrelange Bindung zwischen Herta Zerna und ihm zerbrach, als er sich unter dem NS-Regime zu fliehen gezwungen sah und die Frau, die er und die ihn liebte, allein in ihrer Heimat verblieb.

Seitenblick auf die Zeit vor dem NS-Regime: Der Weg der noch jungen Herta Zerna hatte schon mehrere Jahre zuvor aus der damaligen Reichshauptstadt nach Erfurt geführt, wo sie sich treu geblieben war und für mehrere sozialdemokratische Zeitungen publiziert hatte - in der immer instabiler werdenden Weimarer Republik. Der Lebensweg der Journalistin spiegelte auch das medial wie politisch immer weiter verhärtete Kampfgeschehen dieser so unruhigen Zeit. Herta Zerna wurde in Erfurt zu verschiedenen Geldbußen und im Jahr 1930 sogar zu einer vierwöchigen Haftstrafe verurteilt - wobei sie vor dem Gefängnis durch eine Amnestie bewahrt wurde. Sie war in den vorangegangenen Jahren zu einer sehr bekannten Gegnerin der immer weiter erstarkenden Nazis geworden und stand deshalb seit dem Jahr 1933 (nun wiederum in Berlin lebend) unter besonderer Beobachtung des schnell sich etablierenden NS-Regimes bzw. der Gestapo, einhergehend mit wiederholten Verhaftungen und vielen Vernehmungen.

Depressionen, ein Messerangriff - und Hilfe für verfolgte Mitmenschen
Herta Zerna lehnte den Nationalsozialismus auch weiterhin strikt ab und beugte sich nicht, jedoch bestimmten auch Depressionen von nun an ihren Lebensweg - und eine entsprechende nervenärztliche Behandlung, der sie sich unterzog. Das Jahr 1935 führte dabei an einen entscheidenden Wendepunkt, der sie äußerlich entstellte. Herta Zerna wurde von einem sie behandelnden Arzt mit einem Messer angegriffen, wobei ihr ein Auge ausgestochen wurde. Tatmotiv und Tathergang konnten nie eindeutig ermittelt werden. Die Journalistin setzte ihren Kampf gegen das NS-Regime gleichwohl auch nach der beschriebenen, gezielten Messerattacke fort - was mit Blick auch auf die denkbar schwere Gesichtsverletzung, die sie davongetragen hatte, bemerkenswert war.

Sie lebte zu dieser Zeit in der Motzstraße im zentralen Stadtteil Schöneberg von Berlin - und hier, nahe dem pulsierenden Nollendorfplatz, vollbrachte sie eine Rettungstat, die für die hauptstädtische Zeitgeschichte auch in viel späterer Zeit von besonderer Bedeutung sein sollte. Herta Zerna versteckte in ihrer Wohnung aus noch immer fester Verbundenheit zur (längst verbotenen) SPD zeitweise das Ehepaar Suhr, Susanne (* 1893, † 1989) und Otto (* 1894, † 1957). Die Eheleute waren als SPD-Mitglieder vor dem Naziterror gemeinsam in den hauptstädtischen Untergrund geflohen - auch weil die Ehefrau eine Jüdin war. Hilfe leistete die unermüdliche Herta Zerna auf dieselbe Weise auch für mehrere andere politisch verfolgte Mitmenschen, jedoch wurden die Eheleute Suhr nach dem Jahr 1945 die bekanntesten beiden Personen, denen sie unter dem Naziterror zur Seite gestanden hatte. Susanne Suhr wurde im Jahr 1958 zum Mitglied des Abgeordnetenhauses gewählt und blieb dies bis zum Jahr 1963, Otto Suhr fungierte seit dem Jahr 1955 als Regierender Bürgermeister und blieb die bis zum Jahr 1957 - jeweils im damaligen West-Berlin.

Widerstand im „Haus des Rundfunks“ und im ländlichen Brandenburg
Herta Zerna selbst arbeitete ab dem Jahr 1941 im Stadtteil Westend von Berlin für eine wirtschaftspolitische Radiosendung im nationalsozialistischen „Haus des Rundfunks“ - und sie nutzte ihre dortige Position auch zur Weitergabe von ausländischen Nachrichten, was unter dem Naziterror strikt verboten war und mit der Todesstrafe geahndet werden konnte. Sie half zudem einer weiteren Jüdin, deren Familienname Moses lautete und deren Vorname in der Literatur als Margot und als Ruth überliefert ist. Herta Zerna unterstützte sie dabei, im hauptstädtischen Untergrund zu überleben, vermittelte ihr zuerst Arbeit in verschiedenen Nähstuben und verschaffte ihr unter falschem Namen und als Stenotypistin ebenfalls eine Anstellung im „Haus des Rundfunks“ - also in einer seit dem Jahr 1933 „gleichgeschalteten“, medialen Propagandaeinrichtung des NS-Regimes. Die Frau, von der heute nicht mehr mit Sicherheit zu sagen ist, ob sie Margot oder ob sie Ruth hieß, war in den ersten Monaten des Jahres 1943 zu Herta Zerna geflohen - und sie hatte damals mitten in der Nacht an ihrer Wohnungstür geklopft, verzweifelt und auf der Flucht vor dem Naziterror. Die Journalistin hatte ihr bereits mehrere Jahre zuvor angeboten, sich bei ihr zu melden, falls sie einmal Hilfe benötigen sollte - und nun nahm sie den verfolgten Mitmenschen umgehend in ihrer winzigen Einzimmerwohnung auf, die fortan zum Versteck der geflohenen Jüdin wurde, im Wechsel mit der Wohnung anderer hilfreicher Mitmenschen, mit denen Herta Zerna befreundet war.

Der Besitz eines kleinen Hauses im brandenburgischen Kagar, heute ein Ortsteil der Stadt Rheinsberg, ermöglichte es Herta Zerna zudem, ihren so entschlossenen Widerstand gegen die Nazis auch fortzusetzen, nachdem sie im Herbst 1943 in Berlin nach einem alliierten Luftangriff ausgebombt war. Das Haus auf dem Land hatte sie bereits im Sommer 1939 erworben - und nun siedelte sie gemeinsam mit ihrer Mutter nach Kagar über, wo die beiden Frauen bis zum Ende des II. Weltkrieges mehrere politisch Verfolgte ebenso versteckten wie Jüdinnen und Juden, erneut das Ehepaar Suhr und gegen Ende der unerbittlichen Kampfhandhandlungen auch einen desertierten Wehrmachtssoldaten. Herta Zerna ging nach dem Ende des NS-Regimes schließlich zurück nach Berlin und zog damit wiederum in ihre Geburtsstadt, die sie bis zum Lebensende nicht losließ.

Romane, Neubeginn und Bruch mit der SPD und die „Banalität des Guten“
„Euphorie“ empfand sie, wie sie selbst sagte, nachdem der II. Weltkrieg beendet war - und ihr beruflicher Neuanfang erfolgte im Dezember 1945 als Redakteurin für „Die Frau von heute“, also bei einem neugeschaffenen Magazin, das von den so genannten „Frauenausschüssen“ des Magistrats des damaligen Groß-Berlin herausgegeben wurde. Die Verbundenheit zur SPD sollte gleichwohl ihr berufliches Wirken schon bald erneut bestimmen: „Der Sozialdemokrat“ wurde zur Zeitschrift, für die Herta Zerna ab Januar 1947 als stellvertretende Chefredakteurin arbeitete - bis die SPD-Zeitung im Jahr 1951 eingestellt werden musste.

Der Lebensweg der einstigen Widerstandskämpferin nahm danach eine weitere Wendung, mit der sie einen schon lange bestehenden Jugendtraum verwirklichen konnte. Herta Zerna lebte ab den 50er Jahren als Schriftstellerin und begann somit erneut zu schreiben, wobei schließlich mehrere Unterhaltungsromane ebenso zu ihrem literarischen Gesamtwerk gehörten wie zahlreiche Gedichte und Kurzprosa. Die Zeit im hauptstädtischen „Haus des Rundfunks“ unter dem NS-Regime verarbeitete sie in „Ich bin eine unbesungene Heldin oder: Ballade vom kleinen Widerstand“, einem kurzen Werk, das die autobiographische Lesart nahelegt und das in „Darauf kam die Gestapo nicht“ (1966) aufgenommen wurde. Das Buch war ein literarischer Sammelband zum Widerstand gegen das NS-Regime im deutschen Rundfunk, der vom „Sender Freies Berlin“ (SFB) publiziert wurde.

Die Auszeichnungen für ihren Widerstand gegen den Naziterror erfolgten zudem seit den 60er Jahren: Herta Zerna wurde im Jahr 1963 als „Unbesungene Heldin“ durch den Senat im damaligen West-Berlin ausgezeichnet - und Mitte der 70er Jahre auch mit dem Bundesverdienstkreuz. Die Anerkennung als "Gerechte unter den Völkern" durch Yad Vashem erfolgte posthum im Jahr 2021.

Sie verließ spät in ihrem Leben die SPD, frustriert von anhaltenden, immer neuen persönlichen Streitigkeiten, die den innerparteilichen Alltag für lange Zeit bestimmen sollten. Sie brach daher mit jener Partei, der sie sich einst von Kindheitstagen an verbunden gefühlt hatte - und als Herta Zerna im Jahr 1988 in greisem Alter verstarb, geschah dies vereinsamt und vergessen im Stadtteil Zehlendorf von Berlin. Die Vergessenheit blieb nach ihrem Tode über ihrem Lebensweg liegen, denn bis heute gibt es in Berlin (und damit in ihrer Geburtsstadt) keine einzige Gedenktafel, die an Herta Zerna erinnert - auch nicht in der Rostocker Straße 28, ihrer einstigen Heimatadresse.


Die sehr, sehr wenigen Quellen, die zu Herta Zerna erhalten geblieben sind, zeigen noch heute das deutliche Bild einer reflektierten Frau, die mit Blick auf ihre Motivation zum Widerstand gegen den Naziterror indirekt auch auf Hannah Arendt (geb. 1906, gest. 1975) zu sprechen gekommen war - und zwar auf deren bekanntestes Diktum. Die „Banalität des Bösen“, der immer wieder kontrovers bewertete, zentrale Begriff aus dem Denken der jüdischen Autorin von „Eichmann in Jerusalem“ (1964) war von der einstigen Widerstandskämpferin mit dem gedanklichen Spiegelbild beantwortet worden, als sie als Zeitzeugin zur NS-Zeit befragt worden war: Herta Zerna hatte ihre Hilfe für verfolgte Mitmenschen unter dem Naziterror mit einem zusammenfassenden Begriff einst als „Banalität des Guten“ bezeichnet.

Nicolas Basse M. A. - Berlin, im April 2023

Literatur
Beer, Susanne: Wer half Juden im Holocaust unterzutauchen?, in: „Der Tagesspiegel“, Ausgabe vom 2. August 2019.

Kosmala, Beate: Verbotene Hilfe - Rettung für Juden in Deutschland 1941 - 1945, Bonn 2004.

Tilmann, Christina: Autorin im Zweiten Weltkrieg: Mit Rheinsbergs Stadtschreiberin auf den Spuren von Herta Zerna durch Kagar, in: „Märkische Oderzeitung“ (MOZ), Ausgabe vom 28. April 2022. [Anm.: Stefanie Oswalt ist seit Februar 2022 die 55. Stadtschreiberin von Rheinsberg und hat sich vor Ort u. a. eingehend mit dem Lebensweg von Herta Zerna befasst.]
Quellen online bzw. auf Websites
Küsel, Gudrun: „Mit dem Heldentum ist das so eine Sache...“, Publikation ohne Jahresangabe auf der Website des Deutschen Journalisten-Verbandes Berlin - Journalistenverbandes Berlin-Brandenburg e. V. (DJV Berlin - JVBB).

Website https://righteous.yadvashem.org/,Datenbank der „Gerechten unter den Völkern“ der Gedenkstätte „Yad Vashem": Eintrag zu Herta Zerna.

Website https://watch-salon.blogspot.com/ des Journalistinnenbundes e. V.: Weblog-Interview „Zum 8. Mai 2020: Trotz Kriegsende nur wenig Zukunft. Würdigung der Journalistinnen Herta Zerna und Eva Siewert von Christine Olderdissen und Stefanie Oswalt“.

Website https://www.raoulwallenberg.net/ der „International Raoul Wallenberg Foundation“: Eintrag zu Herta Zerna.