Das Haus war sehr alt und seine ganz genaue Lage in Berlin in den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts schon lange nicht mehr bekannt. Der Standort des einstigen SA-Gefängnisses Papestraße im Stadtteil Tempelhof konnte erst nach eingehender Suche ausfindig gemacht werden - und dies schließlich auch durch mehrere Hinweise aus der breiten Bevölkerung.
Ich blicke (unweit des zentral gelegenen Bahnhofs „Südkreuz“) zuerst auf den Hauseingang und dann insbesondere in den großen Kellerkomplex am Werner-Voß-Damm 54 a. Der heute hier beheimatete „Gedenkort SA-Gefängnis Papestraße“ dokumentiert mit einer Dauerausstellung seit dem Jahr 2013 eingehend die grauenhafte Geschichte dieses frühen nationalsozialistischen Konzentrationslagers, das hier im Jahr 1933 bestand. Der Fall der damals hier gefangenen Emma Schwarz ist dabei einer von sehr, sehr vielen Belegen für die Tatsache, dass systematischer Naziterror sogar erfolgte, wenn nur wenige Worte fielen, die den so brutalen SA-Truppen nicht passen mochten.
Der Lebensweg von Emma Schwarz ist bis auf sehr wenige biographische Details unbekannt geblieben, wir kennen bspw. nicht einmal ihr Geburtsjahr und ihr Sterbejahr. Sie war offenbar Kommunistin und wurde im Juli 1933 von der SA im brandenburgischen Zerpenschleuse gefangengenommen, also in einer kleinen Gemeinde ca. 30 Kilometer nördlich von Bernau (bei Berlin). Der Grund für ihre dann folgende Verschleppung in das nahe gelegene KZ Oranienburg: Emma Schwarz hatte zuvor „Mein Arsch ist schlauer als der Kopf von Hitler“ gesagt.
Sie wurde aus dem KZ Oranienburg (in Brandenburg) sodann in das SA-Gefängnis Papestraße (in Berlin) deportiert - und am hauptstädtischen Gedenkort erinnern im einstigen Haftraum für Frauen ein eigenes Exponat und ein kurzer, zusammenfassender Text an ihre Geschichte. Das Schreiben des Kommandanten des KZ Oranienburg vom 11. Juli 1933, in dem dieser die „Feldpolizei“ im SA-Gefängnis Papestraße um die Freilassung von Emma Schwarz bittet, ist erhalten geblieben.
Der Fall ist in seinen Einzelheiten kaum aufzuarbeiten. Die Gefangennahme von Emma Schwarz durch die SA ist im Exponat auf den 3. Juli 1933 und auf der begleitenden Texttafel auf den 1. Juli 1933 datiert worden. Wir wissen aber nicht, ob sie im damaligen Sommer bspw. nach einem spontanen Wortgefecht mit der SA gefangengenommen wurde - oder bspw. nach einer Denunziation, weil sie in früherer Zeit mit den zitierten Worten vom Kopf von Adolf Hitler gesprochen haben mochte. Sie hatte in jedem Fall einen ebenso markigen wie eindrucksvollen Satz gesagt, auf den die SA sodann mit roher Gewalt und besonders perfide antwortete.
Das geheim bestehende SA-Gefängnis in der General-Pape-Straße, die oft nur Papestraße genannt wurde, existierte von März bis Dezember 1933 und war ein frühes KZ. Die SA nutzte die Kelleretage ihres hier geschaffenen Standortes, um Kommunistinnen und Kommunisten, Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten, andere politisch Verfolgte und auch jüdische Gefangene zu verhören, zu misshandeln, zu foltern. Die Zahl der Personen, die in das SA-Gefängnis Papestraße verschleppt wurden und dort unbeschreibliche Qualen erlitten, ist unbekannt, aber sehr hoch: Die Geschichtswissenschaft geht davon aus, dass mindestens 500 Menschen in den Kellern der Papestraße gefangen waren, wobei die Dunkelziffer vermutlich deutlich höher ist - für einen Zeitraum von lediglich knapp zehn Monaten. Das Grauen spielte sich unterirdisch ab - und nachgewiesen sind dabei auch systematische Vergewaltigungen an den hierher deportierten Frauen sowie insgesamt etwa 30 Morde der SA an diversen Gefangenen.
Foltermethoden, die durch die SA hier angewandt wurden, waren u. a. Auspeitschungen und Einsperrungen in einen zugenagelten Sarg über mehrere Stunden, Scheinerschießungen und stundenlanges Strammstehen sowie die Reinigung unmittelbar zuvor benutzter Klosetts mit der bloßen Hand - und zudem wurden Gefangenen gezielt ihre Fußsohlen angebrannt und Haare ausgerissen.
Die Frauen wurden in den Kellern der SA in einen eigenen Haftraum gesperrt - ohne Betten, ohne Liegen, ohne Decken. Der Raum wurde (wie alle anderen Keller) nicht beheizt und war lediglich mit etwas Stroh ausgelegt, die sanitäre Versorgung war unzureichend - und sogar miteinander zu sprechen, war strengstens verboten. Emma Schwarz war ebenfalls hier gefangen - und der bekannteste Name der hier gepeinigten Frauen wird vermutlich der von Martha Plenzdorf (* 1906, Sterbejahr unbekannt) sein, Parteimitglied der KPD und Mutter von Ulrich Plenzdorf (* 1934, † 2007), also des Autors von „Die neuen Leiden des jungen W.“ (1972). Jasmin Lörchner, Journalistin u. a. für „SPIEGEL Geschichte“ sowie Host des „HerStory“-Podcasts, und ich haben das einstige SA-Gefängnis Papestraße und insbesondere dessen Haftraum für Frauen im Sommer 2021 gemeinsam auf Twitter vorgestellt. Bianca Walther, Autorin des "Frauen von damals"-Blogs, berichtete danach ergänzend von der einst ebenfalls hier gefangenen Hertha Block, einer kommunistisch eingestellten Bibliothekarin.[Addendum, August 2023: Die entsprechenden beiden Threads, zu denen ich von meinem Text aus verlinkt habe, sind seit dem Sommer 2023 nicht mehr vorhanden, da sich beide Autorinnen damals von Twitter zurückgezogen haben. NB]
„Mein Arsch ist schlauer als der Kopf von Hitler“: Emma Schwarz war wegen dieser (vermeintlichen) Nichtigkeit in wenigen Worten einst deportiert worden - und ihr Satz und insbesondere seine unfassbaren Konsequenzen gingen mir nicht aus dem Kopf, als ich die einstigen Folterkeller verließ und ihre Umgebung zu besichtigen beschloss. Der Weg vom heutigen „Gedenkort SA-Gefängnis Papestraße“ etwa zum Bahnhof „Südkreuz“ führt an verschiedenen alten Industriebauten vorbei - und zur ersten Gedenktafel, die mit einem sehr allgemein gehaltenen Text an die Vergangenheit der dortigen Keller unter dem Naziterror erinnert: „Den Opfern des frühen Naziterrors 1933 in den Kellern der Kaserne General-Pape-Straße“.
Die Inschrift stammt aus dem Jahr 1981, also aus einer Zeit, in welcher der exakte Standort des einstigen SA-Gefängnisses nicht mehr bekannt war - und in der bspw. auch der Fall von Emma Schwarz noch nicht rekonstruiert gewesen sein wird.
Der Schatten aus nationalsozialistischer Zeit ist, nebenbei bemerkt, von dem Gebiet im Stadtteil Tempelhof bis heute nicht ganz getilgt: Der Werner-Voß-Damm, an dem sich der „Gedenkort SA-Gefängnis Papestraße“ befindet, ist nach Werner Voß (* 1897, † 1917) benannt, einem deutschen Luftwaffenoffizier aus dem I. Weltkrieg. Die Straße erhielt im Jahr 1936 seinen Namen - ein vereinnahmender propagandistischer Akt über den jung gefallenen Jagdflieger durch die damals schon lange regierenden Nazis.
Nicolas Basse M. A. - Berlin, im Januar 2023
Die „Ewige Flamme“, die im Jahr 1955 auf ihm entfacht wurde, trug sehr wesentlich dazu bei, dass er auch außerhalb der Stadtgrenzen des damaligen West-Berlin bekannt wurde. Der heute so traditionsreiche Theodor-Heuss-Platz, der in den 50er Jahren (wieder) Reichskanzlerplatz hieß, spiegelt im Stadtteil Westend von Berlin die deutsche Zeitgeschichte auf vielfache Weise. Das Mahnmal der „Ewigen Flamme“ zum Gedenken an die Opfer von Flucht und Vertreibung wurde einst von Bundespräsident Theodor Heuss (* 1884, † 1963) eingeweiht, weckte seitdem viele Erinnerungen und verursachte zudem wiederholt politische Diskussionen in den folgenden Jahrzehnten.
Reichskanzlerplatz - Adolf-Hitler-Platz - Reichskanzlerplatz - Theodor-Heuss-Platz
Das sehr prachtvolle und zuerst noch unbebaute Areal wurde von 1904 bis 1908 angelegt, zeitgleich also zum Kaiserdamm, der schließlich direkt von Charlottenburg aus auf den neuentstandenen Platz führte. Reichskanzlerplatz hieß er, nachdem er fertiggestellt worden war - und diesen Namen trug er dann 25 Jahre lang. Der Blick auf einen alten Stadtplan aus der Zeit des NS-Regimes jedoch ist besonders wichtig und zeugt von einer einschneidenden Maßnahme, die mit der Geschichte des Platzes ebenfalls verbunden ist. Das Areal wurde am 21. April 1933 zu Ehren von Adolf Hitler bekanntlich in Adolf-Hitler-Platz umbenannt - genau einen Tag, nachdem er 44 Jahre alt geworden war und knapp drei Monate, nachdem er zum Reichskanzler ernannt worden war.
Das NS-Regime griff seit dem Jahr 1933 auch und gerade in Berlin mit gezielten propagandistischen Neu- und Umbenennungen vieler öffentlicher Straßen tief in den Stadtplan, vor allem aber in das Alltagsleben der damaligen Reichshauptstadt ein - und dass der lange Schatten aus der NS-Zeit stellenweise noch heute auf der Stadt und auf seinen Straßen liegt, zeigt sich weitab vom gerade beschriebenen Theodor-Heuss-Platz in Westend beispielsweise im Bayerischen Viertel im Stadtteil Schöneberg.
Salomon Haberland und die Tilgung seines Familien- und Straßennamens
Ich stehe in der Mitte des Gehwegs der Haberlandstraße, die nur einen kurzen Fußweg von etwa drei Minuten in nördlicher Richtung vom Bayerischen Platz entfernt liegt. Die Straße verbindet die Aschaffenburger Straße und die Landshuter Straße miteinander, die beide direkt auf den Bayerischen Platz zulaufen, wenn man ihnen in südlicher Richtung folgt - und zudem wurde die Straße einst nach Salomon Haberland (geb. 1836, gest. 1914) benannt, dem jüdischen Begründer des Bayerischen Viertels.
Die Namensgebung erfolgte im Jahr 1906 aus einem sehr feierlichen Anlass: Salomon Haberland wurde damals 70 Jahre alt - und ihn, den alteingesessenen und sehr erfolgreichen Textilunternehmer, mit einer eigenen Straße zu ehren, war eine ebenso naheliegende wie liebevolle Initiative, um den Namen und das Ansehen des hochbetagten Jubilars schon zu Lebzeiten zu verewigen. Die nach ihm benannte Straße, in „seinem“ Stadtteil sehr zentral gelegen, bestand aus einem nördlichen Teil und aus einem südlichen Teil, die seit dem Jahr 1906 gemeinsam als eine Straße galten, obwohl sie beinahe rechtwinklig zueinander standen. Der Blick auf einen Stadtplan aus alter Zeit verdeutlicht, dass ein solch ungewöhnlicher Straßenverlauf allenfalls sehr, sehr selten (oder nie) vorkam - in ganz Berlin und in ganz Schöneberg, einer bis zum Jahr 1920 noch kreisfreien Stadt. Die gleichsam zweigeteilte bzw. sich gabelnde Haberlandstraße trug ihren ehrenvollen Namen danach für mehr als drei Jahrzehnte bzw. noch in den ersten Jahren des NS-Regimes - bis zu einer radikalen Zwangsmaßnahme unter Wilhelm Frick (* 1877, † 1946), der bereits seit dem 30. Januar 1933 als Reichsinnenminister fungierte. Straßen, die namentlich Jüdinnen und Juden oder so genannten „jüdischen Mischlingen ersten Grades“ gewidmet waren, mussten im gesamten Deutschen Reich „unverzüglich“ umbenannt werden, wie es im entsprechenden Runderlass des nationalsozialistischen Reichsinnenministeriums vom 27. Juli 1938 formuliert war.
Dies geschah deshalb auch im Bayerischen Viertel, dieser so traditionsreichen Ortslage mit einem überdurchschnittlich hohen jüdischen Bevölkerungsanteil. Der Name der zweigeteilt verlaufenden Haberlandstraße wurde umgehend von den Straßenschildern und aus den Stadtplänen entfernt. Sie hieß fortan Nördlinger Straße (Südteil) bzw. Treuchtlinger Straße (Nordteil). Die (durchaus klangvollen) neuen Namen waren mit Nördlingen und mit Treuchtlingen einer bayerischen Stadt bzw. einer fränkischen Stadt gewidmet, die beide in den letzten Jahren des 9. Jahrhunderts n. Chr. zum ersten Male urkundlich erwähnt worden waren. Die schnell umgesetzte, neue Straßenbeschilderung mochte sich eher unauffällig in das Bayerische Viertel einfügen, aber: Zwangsmaßnahme blieb Zwangsmaßnahme, Namenstilgung blieb Namenstilgung - und sie hatte (auch) hier, wie geschildert, einen eindeutig antisemitischen Beweggrund. Die Unruhe vor allem unter den vielen Jüdinnen und Juden, die seit jeher im Bayerischen Viertel lebten, ist leicht vorstellbar - zumal durch den rassistischen Runderlass aus dem Sommer 1938 nun zwangsweise angeordnet wurde, was vielerorts im gesamten Deutschen Reich bereits in den vorangegangenen Jahren wieder und wieder geschehen war. Straßennamen, die an Jüdinnen und Juden erinnerten, waren unter dem Naziterror bereits in hoher Zahl dauerhaft getilgt worden.
Die lange zuvor gehegte Hoffnung, das Gedenken an Salomon Haberland direkt im Bayerischen Viertel zu bewahren und zu verewigen, war auf diese Weise vom NS-Regime vorerst zerschlagen worden. Die Namen der Nördlinger Straße und der Treuchtlinger Straße blieben auch nach der NS-Zeit unverändert bestehen. Sie schienen bestens zu den Straßennamen der unmittelbar nahegelegenen Nachbarschaft zu passen, etwa zur Aschaffenburger Straße oder zur Landshuter Straße (s. o.). Die Straßenumbenennungen unter dem NS-Regime gerieten im Stadtteil Schöneberg nach und nach in Vergessenheit - und nichts deutete mehr darauf hin, dass die beiden kurzen Straßen, die an Nördlingen bzw. an Treuchtlingen erinnerten, seit dem Jahr 1906 mehr als 30 Jahre lang gemeinsam die Haberlandstraße gewesen waren.
„Stih & Schnock“ und die Wirkung einer Gedenktafel
Das „Orte des Erinnerns“-Mahnmal, das in den frühen 90er Jahren entstand, weckte schließlich alte Erinnerungen. Renata Stih und Frieder Schnock (bzw. „Stih & Schnock“, wie sie sich als künstlerisch engagiertes Ehepaar nennen), kreierten im Jahr 1992 insgesamt 80 Gedenktafeln, die im folgenden Jahr rund um den Bayerischen Platz angebracht wurden. Sie bezeugen mit kurzen Texten viele rassistische Gesetze und Verordnungen und Vorschriften, mit denen das NS-Regime die jüdische Bevölkerung seit dem Jahr 1933 nach und nach entrechtete - und eine der Gedenktafeln wurde damals an einer Straßenlaterne direkt am Kreuzungspunkt der Nördlinger Straße und der Treuchtlinger Straße eingeweiht. Die Inschrift auf der Vorderseite dieser Gedenktafel fasste seitdem das Geschehen in der NS-Zeit mit wenigen Worten mahnend zusammen: „Straßen, die Namen von Juden tragen, werden umbenannt. Die nach dem Gründer des bayerischen Viertels benannte Haberland Straße wurde in Treuchtlinger Straße und in Nördlinger Straße umbenannt (27. 7. 1938).“ Das Bild eines Straßenschildes, auf dem ‚Haberlandstraße‘ zu lesen ist, ergänzt auf der rückwärtigen Seite der Gedenktafel den soeben zitierten Text.
Die stumme, aber sehr deutliche Mahnung zeigte zumindest teilweise Wirkung, denn die erneute Umbenennung der Nördlinger Straße bzw. des südlich gelegenen einstigen Straßenteils in Haberlandstraße erfolgte im Jahr 1996 - und damit keine drei Jahre, nachdem „Stih & Schnock“ mit der gerade beschriebenen Gedenktafel an die Geschichte des vorherigen Straßennamens erinnert hatten. Der Name der Treuchtlinger Straße bzw. des nördlich gelegenen einstigen Straßenteils jedoch blieb auch weiterhin bestehen: Die Straße, ein Bestandteil der alten Haberlandstraße, heißt noch heute Treuchtlinger Straße - und doch verbirgt sich hinter ihrer Geschichte weit mehr als nur eine Reminiszenz an die so traditionsreiche mittelfränkische Kleinstadt.
Die Tatsache, dass heute bereits seit langen Jahren wieder eine Haberlandstraße durch das Bayerische Viertel führt, ist besonders erfreulich - auch und gerade mit Blick auf die mehr als bewegte Vergangenheit des gesamten Stadtteils unter dem Naziterror. Die Frage jedoch bleibt, warum die Straße nicht vollständig (erneut) umbenannt wurde, ihren einstigen Namen also nur teilweise zurückerhielt - zumal der Grund dahinter bis heute die rassistische Weltanschauung des NS-Regimes ist. Der Name der Treuchtlinger Straße mutete nach dem Ende des NS-Regimes (inmitten des Bayerischen Viertels) in allen folgenden Jahrzehnten gewiss logisch an - und er wirkt auch heute logisch, wenn man durch die verwinkelten Straßen rund um den Bayerischen Platz spaziert. Die Straßenbenennung schmerzt jedoch, wenn man verinnerlicht, wie die Treuchtlinger Straße zu ihrem noch immer bestehenden Namen kam.
Hoffnung: Haberlandstraße oder Henochstraße
Gedankenspiele: Die Haberlandstraße verliefe, sofern auch die Treuchtlinger Straße ihren einstigen Namen zurückerhielte, erneut sich gabelnd - also eher wie eine Straßenabzweigung als eine Straße. Die Tatsache, dass dies ein in ganz Berlin wohl einzigartiger und sehr verwinkelter Straßenverlauf wäre, mag als Argument gegen eine vollständige erneute Umbenennung in Haberlandstraße angeführt werden. Die Stichhaltigkeit dieses Arguments wäre zugleich zu diskutieren, denn im Grundsatz spricht natürlich nichts gegen eine Umbenennung der Treuchtlinger Straße in Haberlandstraße. Die Notwendigkeit eines anderen Straßennamens ist ganz im Gegenteil sehr offensichtlich.
Die Geschichte der Treuchtlinger Straße ist allerdings auch in anderer Weise mit den zahllosen Grausamkeiten der NS-Zeit verbunden und verweist dadurch auf einen weiteren denkbaren (neuen) Straßennamen. Lilli Henoch, die beruflich als Turnlehrerin wirkte, lebte bis zum Herbst 1942 in der Treuchtlinger Straße 5 (die bis zum Sommer 1938 die Haberlandstraße 11 gewesen war). Sie war die wohl bekannteste Person, die aus der Treuchtlinger Straße deportiert und schließlich ermordet wurde. Der Naziterror traf mit Lilli Henoch einen jüdischen Sportstar bzw. eine einst besonders erfolgreiche Leichtathletin, die in den 20er Jahren mehrere deutsche Meistertitel errungen und zudem mehrere Weltrekorde erzielt hatte - und dies jeweils im Kugelstoßen und im Diskuswurf und im Sprint mit der 4 x 100-m-Staffel. Rahel Mendelsohn, ihre in zweiter Ehe verheiratete, schon betagte Mutter, und Max Henoch, ihr jüngerer Bruder, lebten gemeinsam mit der Sportlerin im Bayerischen Viertel - bis sie alle vom NS-Regime deportiert und ermordet wurden. Stolpersteine für alle drei Personen wurden bereits im Sommer 2008 vor der heutigen Treuchtlinger Straße 5 verlegt. Sie erinnern daran, dass Rahel Mendelsohn und Lilli Henoch im September 1942 nahe dem besetzten Riga erschossen wurden, während Max Henoch in das KZ Auschwitz deportiert und nach neuerlicher Verschleppung schließlich im KZ Buchenwald ermordet wurde.
Die Umbenennung der Treuchtlinger Straße ist eine große Hoffnung, die ich mit der Zukunft des Bayerischen Viertels verbinde - und sie sollte gegebenenfalls Henochstraße heißen, in bleibender Erinnerung an Lilli Henoch und ihre Familie. Berlin gedenkt der einstigen jüdischen Leichtathletin auf Weltklasseniveau u. a. mittels des gerade beschriebenen Stolpersteins und mittels des Lilli-Henoch-Sportplatzes im Stadtteil Kreuzberg zwischen der Ruine des einstigen Anhalter Bahnhofs und dem Tempodrom. Die Erinnerung an sie ließe sich jedoch mit einem ihr gewidmeten Straßennamen in sehr angemessener Weise erweitern, zumal Lilli Henoch nach dem Ende des NS-Regimes für lange Jahre in Vergessenheit geriet - und zugleich würde mit einer Umbenennung der Treuchtlinger Straße in Henochstraße (endlich, endlich) das heute weithin vergessene, aber nach wie vor sichtbare Resultat einer antisemitischen Zwangsmaßnahme aus der NS-Zeit vollends zurückgenommen.
Stadtplan voll von braunen Flecken
Der Blick soll am Ende noch einmal in den Stadtteil Westend gehen: Das Areal am Kaiserdamm, das im Jahr 1933 in Adolf-Hitler-Platz umbenannt worden war, erhielt erst am 31. Juli 1947 (erneut) seinen einstigen Namen zurück und hieß fortan wieder Reichskanzlerplatz - bis es im Dezember 1963 nur wenige Tage nach dem Tod des einstigen Bundespräsidenten Theodor Heuss neu in Theodor-Heuss-Platz umbenannt wurde. Der Name ist bis heute geblieben und wird auch weiterhin bleiben. Die Bereinigung der vielen braunen Flecken, die auf dem Berliner Stadtplan in der NS-Zeit entstanden sind, ist jedoch in verschiedenen Kiezen bis heute ausgeblieben - und dies nicht nur im Bayerischen Viertel oder im Stadtteil Schöneberg, sondern in ganz Berlin.
Nicolas Basse M. A. - Berlin, im Januar 2023
Der Mann blieb nach dem Ende des NS-Regimes vermutlich auch deshalb weithin unbekannt, weil seine Teilnahme an einer sehr wesentlichen Konferenz trotz schriftlicher Einladung nicht erfolgt war.
Der Brieftext war kurz: Reinhard Heydrich, Chef der Sicherheitspolizei und des SD, lud am 8. Januar 1942 vom besetzten Prag aus führende Vertreter der NSDAP, der SS und mehrerer Reichsministerien zu einer „Besprechung mit anschließendem Frühstück zum 20. Januar 1942“ nach Berlin ein. Der Besprechungsort war das (sehr edle) „Gästehaus der Sicherheitspolizei und des SD“, idyllisch und direkt am Großen Wannsee gelegen, d. h.: am südwestlichen Stadtrand der damaligen Reichshauptstadt und unweit von Potsdam. Das Besprechungsergebnis schon nach ca. eineinhalb Stunden war ein koordinierter Grundsatzplan zur „Endlösung“, also zur Deportation und zum Mord an der jüdischen Bevölkerung aus ganz Europa. Der 20. Januar 1942 ist das Datum der so genannten „Wannseekonferenz“, die diesen Namen allerdings erst in späterer Zeit bzw. nach dem Ende des nationalsozialistischen Deutschen Reiches erhielt. Reinhard Heydrich war daran gelegen, durch die Besprechung seine führende Position im NS-Staat hinsichtlich der Deportationen anerkennen zu lassen - und mehrere wichtige Reichsministerien wurden durch die Konferenz in das weitere, detaillierte Vorgehen im (schon begonnenen) Massenmord an der jüdischen Bevölkerung einbezogen.
Die Villa, in der die beschriebenen Beratungen stattfanden, war von 1914 bis 1915 erbaut worden und diente seit dem Jahr 1940 als „Gästehaus der Sicherheitspolizei und des SD“. Sie wurde erst seit dem Sommer 1989 zu einer offiziellen Gedenkstätte der NS-Zeit und war zuvor im Jahr 1952 ein „Schullandheim“ im damaligen West-Berlin gewesen. Die Geschichte des Hauses und auch der (weite) Weg bis zur Entstehung der heute zu besichtigenden „Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannseekonferenz“ sind auf deren Website eingehend dokumentiert.
Der Gang durch die heutige Dauerausstellung in der Villa am Großen Wannsee ist von Raum zu Raum, von Exponat zu Exponat tief erschüttert - und auch vor einer Stellwand über die Strafverfolgung nach dem Ende des Naziterrors werden viele Besucherinnen und Besucher gewiss verstummt und entsetzt stehen: Die Konferenz fand unter dem Vorsitz von Reinhard Heydrich mit insgesamt 15 Teilnehmern statt, von denen sich jedoch vier nach dem Ende des NS-Regimes nicht einmal vor Gericht zu verantworten hatten. (Die Gerichtsurteile, die gegen andere Konferenzteilnehmer ergingen, waren zudem teilweise sehr, sehr milde.)
Die Tatsache, dass nicht alle eingeladenen Nationalsozialisten der Einladung des Chefs der Sicherheitspolizei und des SD nach Berlin gefolgt waren, ist im Zusammenhang mit der so genannten „Wannseekonferenz“ weniger bekannt - und da ich im „Black & Mieze“-Blog auf eher selten beachtete Seiten der NS-Zeit blicke, stelle ich hier den Lebensweg von Leopold Gutterer vor, der zum Zeitpunkt der „Wannseekonferenz“ als Staatssekretär des Reichsministeriums für Volksaufklärung und Propaganda (RMVP) fungierte und dieses am 20. Januar 1942 am Konferenztisch hätte vertreten sollen. Leopold Gutterer, wie die anderen Teilnehmer von Reinhard Heydrich mit Schreiben vom 8. Januar 1942 eingeladen, sagte seine Besprechungsteilnahme jedoch aus Termingründen ab.
Wer aber war dieser sehr ranghohe Beamte des NS-Staates, welcher der von Reinhard Heydrich dringlich einberufenen „Besprechung mit anschließendem Frühstück“ fernblieb? Leopold Gutterer, jeweils zeitweise Staatssekretär des Reichsministeriums für Volksaufklärung und Propaganda und Vizepräsident der Reichskulturkammer, war der NSDAP bereits im Jahr 1925 beigetreten - und seine politische Karriere verlief danach sehr steil.
NSDAP-Mitglied seit 1925, SS-Mitglied seit 1927: Leopold Gutterer, Nationalsozialist seit frühester Zeit
Der Lebensweg hatte einst in Baden-Baden begonnen, wo Leopold Gutterer am 25. April 1902 geboren worden war. Der Parteieintritt in die NSDAP erfolgte unmittelbar nach seinem Studium u. a. der Germanistik und der Theaterwissenschaft, von dem bis heute nicht feststeht, ob er es mit einem akademischen Abschluss beendete oder nicht. Leopold Gutterer wurde bereits im Jahr 1927 auch SS-Mitglied und verlegte in den folgenden Jahren mehrere von ihm gegründete nationalsozialistische Zeitschriften (und dabei u. a. den „Frankfurter Beobachter“), von denen jede einzelne ein so genanntes „Kampfblatt“ war, in dem gezielte Hetze betrieben wurde. Die so aggressive Propagandaarbeit für den erstarkenden Nationalsozialismus führte dazu, dass Leopold Gutterer zu verschiedenen Freiheitsstrafen verurteilt wurde - und dass er im Wahlkampf der NSDAP vor der Reichstagswahl vom 5. März 1933 die so genannten „Führerkundgebungen“ in Lippe zu organisieren hatte.
Die Berufung als Regierungsrat in das (neue) Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda erging ebenfalls im März 1933 - und hier stieg Leopold Gutterer bis zum Staatssekretär auf und wurde für lange Zeit zu einem der engsten Vertrauten von Dr. Joseph Goebbels, der wiederum bereits seit dem Jahr 1933 als Reichspropagandaminister fungierte. Die Umsetzung der „Kennzeichnungspflicht für Juden“ durch den so genannten „Judenstern“ seit September 1941 war eine seiner wesentlichen Taten bzw. eine seiner Hauptaufgaben in der Amtszeit als Staatssekretär - und die entsprechende Polizeiverordnung vom 1. September 1941 trat am 19. September 1941 in Kraft.
Der Blick u. a. in „Wannseekonferenz - Der Weg zu ‚Endlösung‘“ (2016), ein bemerkenswert detailliertes Buch von Prof. Dr. Peter Longerich, gibt in dieser Hinsicht sehr umfassenden Aufschluss. Der Autor, seit langer Zeit einer der international anerkanntesten deutschen Experten zur Geschichte des Nationalsozialismus, beschreibt Leopold Gutterer darin vor dem Hintergrund der zuvor beschriebenen Zwangsmaßnahme als einen entscheidenden „Scharfmacher“ in der „Judenpolitik“. Der Staatssekretär im RMVP forderte „Sofortmaßnahmen“ gegen die in der Reichshauptstadt lebende jüdische Bevölkerung wie etwa die Einweisung in Barackenlager bereits auf einer interministeriellen Sitzung am 15. August 1941 in Berlin. Die nicht „arbeitsfähigen“ Jüdinnen und Juden solle man „nach Rußland abkarren“ - und zudem seien besondere „Judenläden“ einzurichten, wie Leopold Gutterer in derselben Sitzung erklärte. Die „Grundvoraussetzung“ für diese Maßnahmen wiederum sei die feste und gut sichtbare Kennzeichnung der jüdischen Bevölkerung - und damit ein wesentlicher organisatorischer Schritt auf dem weiteren Weg der nationalsozialistischen „Judenpolitik“, dem Adolf Hitler nur wenige Tage danach zustimmte, als Dr. Joseph Goebbels ihn darauf angesprochen hatte.
Leopold Gutterer wirkte von 1941 bis 1944 als Staatssekretär im RMVP, bevor er - u. a. mehrfach in Schwarzmarkthandel verstrickt - innerhalb des NS-Staates für kurze Zeit als Vorstandsvorsitzender der Universum Film AG (Ufa) neu eingesetzt und schließlich zum Fronteinsatz im II. Weltkrieg einberufen wurde. Der Agitator der vorangegangenen Jahre, einst auch Mitglied der so genannten „Reichspropagandaleitung“ der NSDAP, trat als Unteroffizier in eine Panzerjägereinheit ein und kämpfte am Ende als einfacher Soldat (nahezu unerkannt) in der letzten Phase des II. Weltkrieges. Die Spur seines Lebensweges führte nach Kriegsende und nach kurzer amerikanischer Kriegsgefangenschaft auf einen unterfränkischen Bauernhof bei Bad Kissingen.
Leopold Gutterer, der seinen Namen und sein vorheriges Leben verschwieg, hielt sich dort bis zum Herbst 1947 als einfacher Landarbeiter auf - bis er enttarnt, für kurze Zeit inhaftiert und dann vor Gericht gestellt wurde.
Staatssekretär in der NS-Zeit, Kinobetreiber und Theaterdirektor in der jungen Bundesrepublik
Der Angeklagte wurde zu einer fünfjährigen Arbeitslager-Strafe verurteilt - wobei dieses Urteil bereits im Winter 1948 in eine einjährige Arbeitslager-Strafe umgewandelt wurde, einhergehend u. a. mit lebenslangem Pensionsentzug und der Abgabe von 80 Prozent des persönlichen Vermögens. Der einst so bedeutende Beamte des NS-Staates wurde dann zuerst Kinobetreiber, arbeitete ab Mitte der 50er Jahre als Geschäftsführer der „Aktualitäten-Lichtspiele“ in Düsseldorf - und in den 60er Jahren wirkte er als Direktor des Theaters Aachen. Leopold Gutterer verstarb schließlich am 27. Dezember 1996 - und dies ebenfalls in Aachen, nach einem langen Lebensabend und in greisem Alter.
Der Weg, den er in der NSDAP seit den 20er Jahren und im NS-Staat ab dem Jahr 1933 gegangen war, ist auch aus heutiger Sicht sehr bemerkenswert - ebenso wie sein Leben nach der NS-Zeit bzw. der juristische Umgang mit seiner Vergangenheit nach dem Jahr 1945.
Wir blicken zum Abschluss noch einmal auf den 20. Januar 1942: Die Geschichtsforschung hat nachgewiesen, dass Leopold Gutterer seine Besprechungsteilnahme an der „Wannseekonferenz“ absagte - ebenso wie Ulrich Greifelt, damals Leiter der Dienststelle des „Reichskommissars für die Festigung deutschen Volkstums“, und wie Friedrich Wilhelm Krüger, damals „Höherer SS- und Polizeiführer Ost“. Josef Bühler vertrat den gleichfalls abwesenden Hans Frank, der als „Generalgouverneur für die besetzten polnischen Gebiete“ zur Konferenz eingeladen worden war. Franz Schlegelberger als kommissarischer Reichsjustizminister wiederum ließ sich von Roland Freisler vertreten, damals Staatssekretär im Reichsjustizministerium und danach im August 1942 zum Vorsitzenden des nationalsozialistischen Volksgerichtshofes ernannt - und ein biographisches Detail bleibt zu berichten: Leopold Gutterer überlebte sie alle. Dr. Gerhard Klopfer, der letzte der insgesamt 15 Nazis, die an der „Wannseekonferenz“ teilgenommen hatten, verstarb im Januar 1987 (und damit fast zehn Jahre vor Leopold Gutterer). Der Sterbeort war Ulm, wo er seit dem Jahr 1956 für lange Zeit berufstätig gewesen war - und zwar als Rechtsanwalt.
Die Todesanzeige seiner Familie in der „Südwest Presse“ geriet zum Skandal, der in der breiten Bevölkerung für kurze Zeit sehr aufmerksam verfolgt wurde: Dr. Gerhard Klopfer, der zum Zeitpunkt der „Wannseekonferenz“ die „Staatsrechtliche Abteilung III“ in der Parteikanzlei der NSDAP geleitet hatte, sei „nach einem erfüllten Leben zum Wohle aller, die in seinem Einflußbereich waren“, verstorben, wie seine Familie mitteilen ließ.
Die letzte noch lebende Person, die der „Wannseekonferenz“ beigewohnt hatte, verstarb jedoch erst im Jahr 2010 - und es handelte sich dabei um die einzige Frau, die in der Besprechung mitgewirkt hatte. Ingeburg Werlemann, Sekretärin von Adolf Eichmann (und damit des Leiters des Referates IV B 4 „Judenangelegenheiten, Räumungsangelegenheiten“ im Reichssicherheitshauptamt (RSHA)), hatte am 20. Januar 1942 auf der Konferenz stenographiert und somit die entscheidenden Vorarbeiten für das Besprechungsprotokoll geleistet. Das (sehr umfassende) Protokolldokument wurde in der heute bekannten Schriftform von Adolf Eichmann und von Reinhard Heydrich miteinander besprochen und verfasst - und es ist heute als Faksimile in der NS-Gedenkstätte am Wannsee ausgestellt und nachzulesen, Seite für Seite.
Die „Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannseekonferenz“ zu besuchen, ist in vielfacher Hinsicht tief beeindruckend - insbesondere mit Blick auf die strikt technokratische, gleichsam „aktendeckelige“ Sprache, die für die Besprechung (und für die gesamte nationalsozialistische „Judenpolitik“) sehr typisch war: Völkermord als Verwaltungsakt.
Ich empfehle zugleich, an diesem einstigen Tatort der Verbrechen des NS-Staates auch einmal an die so selten beachtete Geschichte von Leopold Gutterer zu denken - zumal sich in der (brillanten) Dauerausstellung bislang kein einziger Hinweis auf ihn und die anderen Nazis findet, die der „Besprechung mit anschließendem Frühstück“ vom 20. Januar 1942 fernblieben, deren Lebenswege aber auch durch das Einladungsschreiben von Reinhard Heydrich zumindest mit der Vorgeschichte der „Wannseekonferenz“ verbunden sind.
Nicolas Basse M. A. - Berlin, im Januar 2023
Sie erlitt einen Schlaganfall, nachdem sie im Jahr 1946 erfahren hatte, was wenige Jahre zuvor durch ihre Denunziation am Ende geschehen war. Gertrud Waschke (* 1878, Sterbejahr unbekannt) hatte unter dem Naziterror das ihr unbekannte Ehepaar Hampel, Elise (* 1903, † 1943) und Otto (* 1897, † 1943), im Herbst 1942 bei der Polizei angezeigt. Die Eheleute, die im Stadtteil Wedding von Berlin gelebt hatten, waren am 27. September 1942, wie schon so oft, heimlich erneut mit handschriftlich geschriebenen Postkarten und Flugzetteln in der damaligen Reichshauptstadt unterwegs gewesen - diesmal in einem Kiez im Stadtteil Schöneberg und für eine neuerliche Widerstandsaktion. Die Verteilung ihrer Karten in der Eisenacher Straße hatte nahe dem pulsierenden Nollendorfplatz diesmal jedoch zum entscheidenden Wendepunkt geführt, der ihnen schließlich den Tod bringen sollte.
Verrat in der Eisenacher Straße 122
Elise und Otto Hampel waren - wieder einmal - von Haus zu Haus und von Hof zu Hof gegangen, ebenso wie an vielen anderen Tagen seit dem Herbst 1940. Sie hatten ihre Postkarten auch am 27. September 1942 in großer Zahl auf Treppenabsätzen abgelegt und in Briefkästen eingeworfen. Das Ehepaar war dabei erneut in aller Stille unterwegs gewesen, da seine kurzen Flugschriften mit deutlichen Worten zum Widerstand gegen das NS-Regime und zur Kriegsdienstverweigerung aufriefen - und nachdem die Hampels das mehrgeschossige Mietshaus in der Eisenacher Straße 122 betreten hatten, waren sie von einer hier lebenden Frau aus sehr aufmerksamen Augen beobachtet worden, als sie ihre Postkarten verteilten. Gertrud Waschke, deren Name in verschiedenen geschichtswissenschaftlichen Publikationen auch als Gertrude Waschke überliefert ist, lebte als Witwe in dem besagten Haus - und sie soll, wie mehrere Quellen berichten, das Ehepaar auf seinem Weg durch die Eisenacher Straße schon zuvor verfolgt haben. Das Bild, das sich mit Blick auf die Ereignisse im Stadtteil Schöneberg aus der geschichtswissenschaftlichen Literatur ergibt, ist hinsichtlich mehrerer Details nicht ganz klar. Gertrud Waschke soll das Ehepaar Hampel schließlich entweder in der Eisenacher Straße 122 aufgehalten haben, bis dessen Personalien direkt vor Ort von der Polizei aufgenommen wurden, oder am folgenden Tag auf dem nächstgelegenen Polizeirevier angezeigt haben. Sie gab, wie eindeutig rekonstruiert worden ist, in jedem Fall die entscheidenden Hinweise, die zur Verhaftung des Ehepaars Hampel im Oktober 1942 führten. (Die Quellen nennen den 20. Oktober und den 27. Oktober als den Tag der Verhaftung, wobei nur ein Datum zutreffend sein kann, da gesichert nachgewiesen ist, dass beide Eheleute an demselben Tag festgenommen wurden - wahrscheinlich am 20. Oktober.)
Die Fahndung der Gestapo und der hauptstädtischen Polizei war zuvor seit September 1940 mehr als zwei Jahre lang ohne eindeutiges Ermittlungsergebnis verlaufen. Elise und Otto Hampel hatten ihre mehr als 200 Postkarten in diesem Zeitraum wieder und wieder, aber immer unbemerkt in verschiedenen Stadtteilen verteilt - zuerst im Wedding (wo das Ehepaar wohnte), danach aber auch in anderen hauptstädtischen Gegenden und dabei zuletzt in Schöneberg. Die von ihnen verteilten Postkarten und Flugzettel wurden von allen, die sie auffanden oder in ihren Briefkästen hatten, fast immer umgehend bei der Gestapo oder bei der hauptstädtischen Polizei abgegeben. Die Hampels jedoch hatten ihre Widerstandsaktionen zu jeder Zeit entschlossen fortgesetzt - bis sie auf Gertrud Waschke getroffen waren, die nach ihren Beobachtungen nicht zögerte, die Polizei einzuschalten. Die zuvor erfolglose Jagd, bei der sich mit Blick auf die immer wieder aufgefundenen Postkarten keine deutliche Spur ergeben hatte, fand durch den Verrat einer regimetreuen Bürgerin auf einmal ein sehr schnelles Ende.
Todesurteil und Mord mit dem Fallbeil
Elise und Otto Hampel wurden danach am 22. Januar 1943 vom nationalsozialistischen Volksgerichtshof zum Tode verurteilt - in einem kurzen Prozess, bis zu dessen Urteilsspruch keine dreieinhalb Stunden vergingen. Gertrud Waschke erschien an diesem Tag als Zeugin und erhielt 3,10 Reichsmark für ihre Aussage vor Gericht - und auch die Fahrtkosten wurden ihr erstattet. Der Ausgang des Verfahrens jedoch blieb ihr auch nach dem Ende des NS-Regimes zuerst unbekannt.
Die Gnadengesuche, die das verurteilte Ehepaar in seiner Haftzeit schrieb, wurden abgelehnt - und am 8. April 1943 wurden Elise und Otto Hampel im Strafgefängnis Plötzensee im Stadtteil Charlottenburg von Berlin schließlich beide mit dem Fallbeil ermordet.
Die Geschichte ihres Widerstandes ist in der hauptstädtischen Gedenkkultur in viel späterer Zeit auf mehrfache Weise sichtbar geworden - und sie ist auch deshalb bemerkenswert, weil sich beide ab dem Jahr 1933 gegenüber dem NS-Regime zumindest aufgeschlossen gezeigt hatten. Die Hampels, deren Ehe ohne Kinder blieb, gingen erst im Jahr 1940 in den Widerstand, nachdem der Bruder von Elise Hampel bzw. der Schwager von Otto Hampel als Wehrmachtssoldat an der Westfront gefallen war - nach dem Angriff des nationalsozialistischen Deutschen Reiches auf Frankreich.
Mahnmale, eine Straßenbenennung - und zuvor Literaturgeschichte
Elise und Otto Hampel lebten in der Amsterdamer Straße 10. Das Haus, in dem sie einst wohnten, steht schon seit langer Zeit nicht mehr, aber an dem Neubau, der sich am Standort des einstigen Hauses befindet, erinnert bereits seit dem Jahr 1989 eine Gedenktafel an das widerständige Ehepaar. Der Fußweg, der etwa 500 Meter davon entfernt zum Rathaus des Stadtteils Wedding führt, trägt seit dem Jahr 2018 ihren Namen, heißt heute also Elise-und-Otto-Hampel-Weg. Die Gedenkstele zu Ehren des Ehepaares auf dem Rathausvorplatz ist weiß und sehr eindrucksvoll. Die Inschrift auf der vorderen Seite der Stele ist eine (vergrößerte) handschriftliche Zeile von einer Postkarte, welche die Hampels verteilten: „Wache auf! Wir müssen uns von der Hitlerei befreien!“ (Die Geschichte des Widerstandes und biographische Details zu beiden Eheleuten finden sich zudem auf der hinteren Seite der Stele.)
Das wohl bekannteste Zeugnis ihres so mutigen Kampfes gegen das NS-Regime jedoch entstammt bereits der deutschen Literaturgeschichte der Nachkriegszeit. Hans Fallada (* 1893 als Rudolf Wilhelm Friedrich Ditzen, † 1947) schilderte die Geschichte von Elise und Otto Hampel in „Jeder stirbt für sich allein“, seinem letzten Werk, das im Sterbejahr des Autors publiziert wurde. Anna und Otto Quangel, die literarischen Eheleute aus dem so bedeutenden Roman, sind Elise und Otto Hampel nachempfunden - und Primo Levi (geb. 1919, gest. 1987), der unter dem Naziterror das KZ Auschwitz überlebte, bezeichnete „Jeder stirbt für sich allein“ in späterer Zeit einmal als „das beste Buch, das je über den deutschen Widerstand geschrieben wurde.“
Ein Lebensweg, der unbekannt blieb
Die Geschichte von Gertrud Waschke ist dagegen weit weniger bekannt geworden als der genannte Roman von Hans Fallada - auch weil der Lebensweg jener schon betagten Handlangerin des NS-Regimes bis heute weithin im Dunkeln liegt. Details über jene Frau, die den Verrat an den Eheleuten Hampel beging, sind in nur sehr, sehr geringer Zahl nachgewiesen geworden. (Das Ehepaar Quangel im Buch von Hans Fallada wird, nebenbei bemerkt, bei der Polizei von einem Mann angezeigt.)
Gerichtsakten aus alter Zeit geben ein wenig Auskunft: Gertrud Waschke hatte sich ab dem Herbst 1948 für ihre einstige Denunziation vor Gericht zu verantworten und wurde dabei im folgenden Jahr wegen „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ zu einer zweijährigen Freiheitsstrafe verurteilt. Das Haus in der Eisenacher Straße 122, in dem sie einst lebte, ist schon vor vielen Jahren einem unscheinbaren, groben Neubau gewichen, der dem sozialen Wohnungsbau zuzuordnen ist - und anders als im Wedding erinnert hier nichts an Elise und Otto Hampel, wobei eine weitere Gedenktafel am einstigen Tatort, an dem sie verraten wurden, sehr angemessen wäre, in bleibender Erinnerung an ihren festentschlossenen Widerstand gegen den Naziterror.
Das letzte bemerkenswerte Detail, das mit Blick auf das Leben von Gertrud Waschke zu schildern bleibt, steht in direktem Zusammenhang mit dem Schlaganfall, den sie im Jahr 1946 durch die Nachricht vom Tode des von ihr denunzierten Ehepaares schließlich erlitt. Hans Fallada selbst soll es gewesen sein, der sie bei der Recherche zu seinem Roman damals in ihrer Wohnung aufsuchte und ihr berichtete, dass Elise und Otto Hampel unter dem NS-Regime ermordet worden waren - bedingt nicht zuletzt durch den Verrat, den sie wenige Jahre zuvor begangen hatte.
Nicolas Basse M. A. - Berlin, im Juni 2023
„‚Aimée‘ und ‚Jaguar‘ lebten hier“, mag man vor dem Haus denken - oder: „‚Aimée‘ und ‚Jaguar‘ liebten hier.“
Das alte, mehrgeschossige Mietshaus in der Friedrichshaller Straße 23 im Stadtteil Schmargendorf von Berlin „atmet“ gleichsam deutsche Zeitgeschichte. Der Stolperstein, der an der besagten Adresse auf dem Gehweg verlegt ist, bezeugt dies mit sehr wenigen Worten. „Hier wohnte Felice Schragenheim, Jg. 1922 - Deportiert 1944 - Theresienstadt - Auschwitz - Gross Rosen“, lautet die Inschrift des Steins, der in der untersten Zeile zudem drei Fragezeichen aufweist. Die Ungewissheit über die genauen Lebensumstände in den letzten Monaten, die der jüdischen Frau unter dem Naziterror noch blieben, spiegelt sich auch auf dem kleinen, metallenen Mahnmal, das an ihrem letzten Wohnort seit dem Jahr 2004 an sie erinnert. Sie lebte hier, im sehr beschaulichen südwestlichen Berlin, etwas mehr als ein Jahr lang bei Elisabeth „Lilly“ Wust (* 1913, † 2006) - verbunden in Liebe.
Daten, Fakten, Fragezeichen hinter einem Mythos
Elisabeth Wust war ‚Aimée‘. Felice Schragenheim war ‚Jaguar‘. Die Kosenamen, mit denen die beiden Frauen einander bezeichneten, sind belegt und seit vielen Jahren weithin bekannt. Schrift- und Bildzeugnisse zu ihnen wurden seit den 90er Jahren nach und nach in immer größerer Zahl publiziert. Was aber zeigt der Blick auf die gesichert nachgewiesenen, biographischen Fakten aus nationalsozialistischer Zeit? Daten, auf deren Grundlage ihre rekonstruierte Geschichte an der letzten Jahrhundertwende entstehen konnte, vermögen natürlich nicht alle Fragen zum gemeinsamen Lebensweg des ungleichen Frauenpaares zu beantworten. Das zeigt sich insbesondere hinsichtlich der einst verschleppten Jüdin.
Spuren am Ende eines steinigen Lebensweges, die sich verlieren: Sterbedatum und Todesort von Felice Schragenheim konnten nicht exakt belegt werden, zu vermuten bleibt, dass sie in der Gefangenschaft im KZ Groß-Rosen oder auf einem Todesmarsch zum KZ Bergen-Belsen umkam. Embolie soll die unmittelbare Todesursache gewesen sein. Sie fiel, das ist klar, dem Holocaust zum Opfer. Der Gedenkstein zu ihren Ehren auf dem Areal des „Dokumentationszentrums KZ Bergen-Belsen“ nennt den März 1945 als Todesdatum - eine Angabe, die aus Dokumenten im Besitz von Martin Feuchtwanger (geb. 1886, gest. 1952) hervorging. Der Verleger, der in Halle an der Saale einst den „Fünf-Türme-Verlag“ gegründet hatte, war ein Onkel von Felice Schragenheim. Das Amtsgericht Charlottenburg in ihrer einstigen Geburts- und Heimatstadt Berlin erklärte sie schließlich im Februar 1948 für verstorben und legte zugleich den 31. Dezember 1944 als formelles Todesdatum fest.
Die Zeit der Frau in der Friedrichshaller Straße 23 hatte am 21. August 1944 geendet. Der Tag wurde zu einem der letzten exakt gesicherten Daten im Leben von Felice Schragenheim. Sie wurde damals von der Geheimen Staatspolizei gefangengenommen - in der Wohnung von Elisabeth Wust, bei der sie im Jahr 1943 eingezogen war. Die Verhaftung erfolgte direkt nach einem gemeinsamen, ausgiebigen Badeausflug an die Havel, den die beiden Frauen im sommerlichen Berlin unternommen hatten und auf dem ihr letztes gemeinsames Foto entstanden war.
Die Beziehung der beiden Frauen zu- und miteinander ist schon vor langer Zeit eine der am eingehendsten dokumentierten Geschichten aus dem Berlin der NS-Zeit geworden. Elisabeth Wust berichtete Erica Fischer (* 1943), einer feministischen Journalistin, in den 90er Jahren in verschiedenen, breit angelegten Interviews von ihrem gemeinsamen Lebensweg mit der besagten Felice Schragenheim. Das Resultat des damaligen Gedankenaustauschs wurde als „Aimée & Jaguar“
verschriftlicht (1994) und verfilmt (1998). Erica Fischer machte sich zuerst und mit ihrem Buch um die Aufarbeitung sehr vieler Fakten zu Frau Wust und Frau Schragenheim in besonderer Weise verdient. Die Geschichte wandelte sich an der letzten Jahrhundertwende aber auch zu einem zeitgeschichtlichen Mythos - bedingt insbesondere durch das Drama der „Senator Film Produktion GmbH“, das auf das schriftliche, journalistisch fundierte Werk folgte.
„Mutterkreuz“ einer Mitläuferin, Widerstand ab 1942
Fakten wiederum: Elisabeth Wust, deren Mädchenname Kappler lautete, war gebürtige Berlinerin. Sie war zudem eine vom NS-Regime mit dem so genannten „Mutterkreuz“ ausgezeichnete, zugleich aber unglücklich verheiratete Hausfrau. Sie lebte mit ihrer Familie in der schon genannten Friedrichshaller Straße 23 im Stadtteil Schmargendorf der damaligen Reichshauptstadt. Sie kann hinsichtlich ihrer Einstellung zum NS-Regime als eine klassische „Mitläuferin“ bezeichnet werden - zumindest mit Blick auf die Zeit bis zur Begegnung mit Felice Schragenheim, die sie im November 1942 kennen lernte. Elisabeth Wust wurde von ihrem Ehemann, der zudem der Vater der gemeinsamen vier Kinder war, mit verschiedenen Frauen mehrfach betrogen. Der Mann, von dem sie sich im Jahr 1943 scheiden ließ, diente als Soldat in der „Wehrmacht“ des nationalsozialistischen Deutschen Reiches und kehrte am Ende nie wieder aus dem II. Weltkrieg zurück. Sie wiederum hatte sich schon zuvor in Felice Schragenheim verliebt.
Die Liaison der Frauen begann im Herbst 1942 - und schon nach vergleichsweise kurzer Zeit, genauer gesagt: im April oder im Mai 1943, zog Frau Schragenheim bei Frau Wust (und bei deren Kindern) ein. Die Jüdin, die einst als Journalistin gearbeitet hatte, war vom NS-Regime zuvor mit Zwangsarbeit in einer Flaschenverschlussfabrik gepeinigt worden und hatte im Oktober 1942 bereits ihren Deportationsbescheid erhalten. Sie hatte deshalb ihren Suizid vorgetäuscht und war vor der ihr drohenden Verschleppung in den Untergrund von Berlin geflüchtet - nur kurze Zeit vor ihrer ersten Begegnung mit Elisabeth Wust. Die alsbald verliebte, als „arisch“ kategorisierte Frau stand auch weiterhin zu ihr, als sich herausstellte, dass sie sich in eine „untergetauchte“ Jüdin verliebt hatte. Sie stellte sich gegen den Naziterror - und dies auch nach der Deportation der von ihr verborgenen Lebensgefährtin, die schließlich doch erfolgte: Die Jagd der Gestapo war auch in ihrem Fall unerbittlich und ohne Gnade gewesen.
Frau Wust reiste im September 1944 noch zum Ghetto Theresienstadt, in das Frau Schragenheim von Berlin aus verschleppt worden war. Die Hoffnung, ihre große Liebe von dort befreien oder zumindest dort wiedersehen zu können, begleitete Elisabeth Wust, erwies sich jedoch als vergeblich. Die Lagerkommandantur wies sie ab, als sie in Theresienstadt mit ihrem Begehr vorstellig wurde. Briefe blieben noch für einige Zeit die letzte Verbindung zwischen den Frauen.
Die Widerstandsbetrachtung durch die deutsche Zeitgeschichtsforschung zeigt: Elisabeth Wust ist durch „Aimée & Jaguar“ an ihrem Lebensabend deutlich sichtbarer geworden als sehr, sehr viele andere Frauen, die sich ebenfalls gegen das NS-Regime aufgelehnt hatten. Das Resultat einer entsprechenden Spurensuche an ihrem einstigen Wohnort in der Friedrichshaller Straße 23 ist umso erstaunlicher. Sie ist hier unsichtbar geblieben - anders als die bei ihr aufgenommene und von ihr geliebte Jüdin, die mit dem schon beschriebenen Stolperstein vor dem Hauseingang gewürdigt wird. Nichts aber erinnert unter der genannten Adresse an die so mutige Hausfrau, eine Gedenktafel zu ihren Ehren etwa gibt es nicht. Elisabeth Wust, die in autobiographischer Hinsicht an ihrem Lebensabend so engagierte Zeitzeugin, ist also ausgerechnet am historisch nachgewiesenen, zentralen Schauplatz der Geschichte von „Aimée & Jaguar“ in Vergessenheit geraten.
Rettung dreier anderer Jüdinnen - und ein Grabstein in Lichterfelde
Die somit bestehende Leerstelle in der hauptstädtischen Gedenkkultur muss auch aus einem anderen Grunde sehr schmerzen. Der Widerstand, den sie gegen das NS-Regime leistete, beschränkte sich nicht auf die Versorgung der bis zuletzt in Liebe mit ihr verbundenen Felice Schragenheim. Elisabeth Wust versteckte vielmehr seit Februar 1945 noch weitere drei Jüdinnen in ihrer Wohnung, die sie bis zum Ende der bald darauf begonnenen Schlacht um Berlin bzw. bis zum Zusammenbruch des NS-Regimes im Mai 1945 zudem mit Lebensmitteln versorgte. Auszeichnungen für ihren Mut und ihre Tatkraft im Kampf gegen den Naziterror wurden ihr in viel späterer Zeit zuteil. Sie wurde im Jahr 1981 mit dem Verdienstorden der Bundesrepublik Deutschland und im Jahr 1999 als „Gerechte unter den Völkern“ in Yad Vashem geehrt. Die Anerkennung als Widerstandskämpferin durch den bekanntesten israelischen Gedenkort zum Holocaust erfolgte zu einem Zeitpunkt, an dem das deutsche und das internationale Kinopublikum bereits durch die Geschichte von „Aimée & Jaguar“ begeistert worden waren - ebenso wie zuvor zahllose Leserinnen und Leser durch das biographische Buch von Erica Fischer.
Was bleibt an zeitgeschichtlichen Fakten und an Erinnerungen? Das Grab der Widerstandskämpferin liegt auf dem Friedhof der traditionsreichen Giesensdorfer Dorfkiche aus dem 13. Jahrhundert im heutigen Stadtteil Lichterfelde von Berlin. „Elisabeth Wust 1913 - 2006“ steht auf ihrem Grabstein - und: „In Memoriam Felice Schragenheim 1922 - 1945“. Die Verbindung der beiden Frauen ist hier gut sichtbar geworden, anders als an ihrem einstigen Wohnort. Die Liebe ist geblieben, über den Tod von ‚Jaguar‘ hinaus und auch als das zentrale Motiv in den verschiedenen Berichten, in denen die schon greise ‚Aimée‘ schließlich an ihre einstige Lebensgefährtin erinnert hatte.
„Der abgeschossene Pfeil kehrt nie zurück...“
Der letzte Seitenblick auf Felice Schragenheim soll einer besonderen Begabung gewidmet sein: Sie dichtete. 16 Verse aus ihrer Poesie seien deshalb zum Abschluss zitiert - und zwar jene Zeilen eines lyrischen Werks im Stile von Mascha Kaléko (geb. 1907, gest. 1975), das sie im März 1941 schrieb, mehr als eineinhalb Jahre vor ihrer ersten Begegnung mit Elisabeth Wust. Die Leidenschaft, die ein sehr wesentlicher Charakterzug von Felice Schragenheim gewesen sein muss, spiegelt sich Wort für Wort in allen vier Strophen des Gedichts, das somit einen authentischen Einblick in ihr Leben bietet - auch aus einer zeitlichen Distanz von mehr als 80 Jahren:
„Der abgeschossene Pfeil kehrt nie zurück.
Das ist kein Gott, der seine Spitze wendet –
und was man kühn für ein ‚Vielleicht‘ verschwendet,
ist oft das Glück...
Es ist zu viel, zu viel, was du verlangst!
Und feige wie ein schlechter Komödiant,
so klamm‘re ich mich fest an deine Hand
und habe Angst...
Ein Blender und ein Vagabund bin ich –
werd‘ ich mich halten ohne Selbstbetrug,
und bin ich dann, für and're gut genug,
es auch für dich?
Und doch: Du hast mit Recht so viel verlangt,
im Leben hat wohl alles Ziel und Sinn. –
Wenn ich einmal ein Mensch geworden bin,
sei du gelobt, geliebt, bedankt!“
Nicolas Basse M. A. - Berlin, im August 2024
Der Junge war 17.
Die Kreuzung der Uhlandstraße mit der Berliner Straße im Stadtteil Wilmersdorf zählt seit langer Zeit zu den vielbefahrenen Verkehrsknotenpunkten südlich des Kurfürstendamms und liegt damit zentral in Berlin. Das gesamte Straßenbild ist hier eher unscheinbar: Schnellrestaurants und Cafés,
Supermärkte und Drogerien, Blumenläden und Bäckereien befinden sich in großer Zahl Wand an
Wand und Tür an Tür jeweils im Erdgeschoss der vielen hohen Wohnhäuser, die für die Umgebung
der Kreuzung ebenso typisch sind wie der vierspurige Asphalt der genannten beiden Straßen. Kontrast im Stadtbild: Der Glockenturm der traditionsreichen Auenkirche direkt am nahegelegenen Volkspark Wilmersdorf sieht vom einstigen Dorfanger aus über die flachen Dächer der umliegenden Nachbarschaft auf die Uhlandstraße und auf die Berliner Straße. Die beiden Straßen aber sind weit weniger sehenswert als das traditionsreiche, protestantische Gotteshaus, das schon in „Irrungen, Wirrungen“ (1887 / 88) von Theodor Fontane (* 1819, † 1898) erwähnt wird. Tag für Tag eilen unweit der Kirche an der beschriebenen, allzu grauen Kreuzung sehr viele Menschen rund um die Uhr zu einer der verschiedenen Bushaltestellen oder zum U-Bahnhof „Blissestraße“ - und damit zur U 7, der längsten U-Bahnlinie der gesamten Stadt. Berlin lädt hier, inmitten von immer dichtem Straßenverkehr und allzu blassen Hausfassaden, kaum dazu ein zu verweilen - und wenn Menschen innehalten und sich die Zeit für einen eingehenden Seitenblick nehmen, so tun sie dies fast immer wegen einer Gedenktafel unmittelbar am Rande des breiten Rasenstreifens, der die jeweils doppelten Fahrspuren der Uhlandstraße voneinander trennt. Die Erinnerung des hier aufgestellten Mahnmals gilt einem Mord der SS, der unter dem Naziterror als so genanntes „Endphaseverbrechen“ in die hauptstädtische Zeitgeschichte eingegangen ist.
Flucht in ein Kellerversteck - Mord an einer Straßenlaterne
Der Junge war 17 - und er versteckte sich im April 1945 kurz vor dem Monatsende (und kurz vor dem
Kriegsende) in Wilmersdorf im Keller eines Hauses in der Berliner Straße zwischen der Uhlandstraße
und der Fechnerstraße. Die „Rote Armee“ eroberte zu diesem Zeitpunkt in der so blutigen Schlacht
um Berlin, begonnen am 16. April 1945, bereits in vielen verschiedenen Stadtteilen Straße um Straße
und Haus um Haus - und sie stieß zudem auf allen Frontabschnitten immer schneller in das Stadtzentrum vor, zum so genannten „Führerbunker“ und zum Reichstagsgebäude. Die Schlacht tobte unerbittlich. Der Junge, desertiert und mit einer Jacke der Waffen-SS bekleidet, hielt sich versteckt, hätte jedoch aufgrund seines Alters noch im so genannten „Volkssturm“ für das zusammenbrechende NS-Regime kämpfen müssen - bis zur letzten Patrone und bis zum letzten Atemzug, aber dem entsprechenden Befehl und allen ermüdenden, verlogenen Durchhalteparolen der immer aggressiver werdenden NS-Propaganda verweigerte er sich. Die Zeit verging und er wartete unter dem Erdboden und abseits aller so heftigen Gefechte um die damalige Reichshauptstadt auf das Ende einer schon lange entschiedenen Schlacht in einem schon lange entschiedenen Krieg - bis er von der SS entdeckt wurde.
Der Junge war 17 - und die SS zerrte ihn nun aus seinem Kellerversteck auf die offene Straße und
erhängte ihn gleich darauf mit einer Wäscheleine an einem nahen Laternenpfahl in der benachbarten
Uhlandstraße. Der SS-Trupp befolgte damit, fanatisch bis zuletzt, einen so genannten „Führerbefehl“
an die hauptstädtische Bevölkerung vom 22. April 1945, wonach „jeder, der die Maßnahmen, die
unsere Widerstandskraft schwächen, propagiert oder gar billigt“ vom NS-Regime auch und gerade
jetzt als „Verräter“ angesehen wurde und „augenblicklich zu erschießen oder zu erhängen“ war. (Der
Befehl ist hier auf der Website des Deutschen Historischen Museums zu sehen.) Die Leiche des ermordeten Jugendlichen blieb zur sichtbaren Abschreckung für mehrere Tage an dem besagten Laternenpfahl hängen, um den Hals ein eilends gefertigtes Pappschild: „Ich war zu feige, für Deutschland zu kämpfen.“ Der Name des Jungen und das ganz genaue Datum, an dem er von der SS ermordet wurde, sind bis heute nicht bekannt. Das Verbrechen geschah, wie Augenzeuginnen und Augenzeugen in viel späterer Zeit berichteten, in den letzten Apriltagen 1945 - und es ist deshalb auch zeitlich einzuordnen. Adolf Hitler nahm sich am 30. April in den Nachmittagsstunden das Leben; um ca. 22:00 Uhr wehte an demselben Tag die Flagge der UdSSR auf dem Reichstagsgebäude. Die „Rote Armee“ eroberte am 1. Mai auch die letzten Straßen im Berliner Stadtzentrum. Berlin ergab sich am 2. Mai in den frühen Morgenstunden den siegreichen Truppen der stalinistischen UdSSR.
Der lange Weg zum angemessenen Gedenken
Der Junge war 17 - und 70 Jahre vergingen, bis an seinen so grausamen Tod (endlich) durch ein Mahnmal erinnert wurde. Der Fall des anonym gebliebenen Jugendlichen wäre beinahe für alle Zeit zu
einem Musterbeispiel des vergessenen Gedenkens geworden. Blumen wurden nach dem Ende des NS-Regimes in jedem Jahr am einstigen Tatort in Wilmersdorf niedergelegt, von Menschen aus der unmittelbaren Nachbarschaft - bis das Verbrechen und die damit verbundenen Erinnerungen nach und nach zu verblassen schienen. Der Junge hatte eine Jacke der Waffen-SS getragen - und diese Tatsache wurde vom Bezirksamt Wilmersdorf im Jahr 1995 als entscheidender Grund genannt, aus dem der Antrag mehrerer engagierter Bürgerinnen und Bürger für eine Gedenktafel nach langer Zeit zuerst abgelehnt wurde, obwohl eine etwaige Mitgliedschaft des Jungen in der Waffen-SS nie bewiesen wurde und auch anhand des angesprochenen Kleidungsstücks nicht bewiesen ist. Das Bundessozialgericht hatte zudem schon im September 1991 festgestellt, dass auch die „Fahnenflucht“ von Deserteuren als Widerstandsakt gegen den Naziterror zu bewerten sei - aufgrund der damit verbundenen Weigerung, für das NS-Regime zu kämpfen. Die Geduld, die Dr. Michael Roeder (* 1946) bewies, führte schließlich zum (angemessenen) Gedenken: Der Historiker, der selbst in Wilmersdorf lebt, setzte sich in späterer Zeit mit viel Geduld und der gebotenen Beharrlichkeit für eine Mahntafel zu Ehren des ermordeten Jugendlichen ein, die schließlich im Jahr 2015 eingeweiht wurde - in den letzten Apriltagen. Das Mahnmal aus hellem Metall mit Blick auf den zuvor beschriebenen Mord in Wilmersdorf steht seitdem in Sichtweite der Straßenlaterne vor der Uhlandstraße 103, an welcher die SS den Jugendlichen tötete. Die Inschrift erinnert in schwarzen Buchstaben an ihn, aber auch an „alle anderen, die sich der Teilnahme am Krieg verweigerten und deshalb ermordet wurden.“ Wolfgang Benz (* 1941), der auf der Gedenkfeier in Wilmersdorf sprach, fasste damals als einer der renommiertesten Historiker zur NS-Zeit die Bedeutung der Inschrift mit Blick auf Deserteure in treffenden Worten zusammen: „Wir schulden ihnen Respekt für ihre Weigerung, an weiterem Unrecht,
Massenmord und sinnlosen Opfern mitzuwirken.“
Der Junge war 17 - und er hätte sein Leben noch vor sich gehabt. Die Erinnerung an ihn ist geblieben, ebenso wie die Mahnung, die für alle Zeit auch mit jenem SS-Mord verbunden ist, der ihn tötete: Die Grausamkeit des Naziterrors kannte bis zuletzt keine Grenzen.
Nicolas Basse M. A. - Berlin, im März 2023
Die „Total Energies“-Tankstelle und ihre Waschanlage direkt am einstigen Tatort sind ebenso unscheinbar wie der gesamte Straßenabschnitt, der an der südlichen Uferseite des Landwehrkanals sich entlangwindet. Ich stehe am Tempelhofer Ufer 34, genau auf halber Höhe zwischen der Schöneberger Straße und der Luckenwalder Straße in Kreuzberg, jenem zentral gelegenen Stadtteil von Berlin, der wie kaum ein anderer seit langer Zeit als alternatives „Szeneviertel“ bekannt ist - und dies auch jenseits der Stadtgrenzen.
Der U-Bahnhof Gleisdreieck der so oft besungenen U-Bahnlinie 1 („Fahr‘ mal wieder U-Bahn...“) befindet sich in Gehdistanz und liegt unweit jener schmalen Kurve, an der die Schöneberger Straße und die Luckenwalder Straße aufeinandertreffen. „Ton Steine Scherben“-Fans aus lange vergangenen Tagen kommen gelegentlich zum Tempelhofer Ufer, was ihrer musikalischen Nostalgie und ihrer ungebrochenen Liebe zu den fast schon sagenumwobenen 80er Jahren im damaligen West-Berlin geschuldet ist. Ralph Christian Möbius (* 1950, † 1996), besser bekannt als ‚Rio Reiser‘, lebte und arbeitete hier, das Haus Nr. 32 war gewissermaßen die kreative Hochburg, von welcher aus „Seine Majestät Rio I. und Einzige, König von Deutschland“ sinnierend und singend sein Volk zu regieren pflegte. Gedenktafel und Graffito zu Ehren von ‚Rio Reiser‘ zieren den grauen Hauseingang, aber ich werfe nur einen kurzen Blick darauf und gehe weiter, denn ich will von einem Mord berichten, der sich in Sichtweite des soeben gesehenen, quasiköniglichen Hauses zutrug - viele, viele Jahre vor der Bandgeschichte von „Ton Steine Scherben“.
Die vielen stadtgeschichtlichen Kontraste sind hier - wie in ganz Berlin - sehr tief. Das Tempelhofer Ufer war - nur wenige Meter entfernt von der soeben beschriebenen, „kultigen“ Adresse - in den späten Abendstunden des 1. Mai 1945 der Schauplatz eines so genannten „Endphaseverbrechens“ unter dem Naziterror. Die SS ermordete vor dem einstigen Mietshaus am Tempelhofer Ufer 34 einen Mann, der Karl Schippa hieß und der Zivilist war, nachdem er hier in der so blutigen Schlacht um Berlin verwundeten sowjetischen Soldaten geholfen hatte - und sie erschoss ihn nur wenige Stunden, bevor die damalige Reichshauptstadt im Morgengrauen des 2. Mai 1945 vor der Roten Armee kapitulierte.
„... augenblicklich zu erschießen oder zu erhängen“
Das Dokument, das in diesem Zusammenhang von besonderem Interesse ist, war ein so genannter „Führerbefehl“ an die hauptstädtische Bevölkerung vom 22. April 1945. Der Befehlstext verdeutlichte in wenigen Zeilen, dass „jeder, der die Maßnahmen, die unsere Widerstandskraft schwächen, propagiert oder gar billigt“ vom NS-Regime auch und gerade jetzt als „Verräter“ angesehen wurde und „augenblicklich zu erschießen oder zu erhängen“ war. (Der Befehl ist hier auf der Website des Deutschen Historischen Museums zu sehen.)
Die „Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes - Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten“ (VVN-BdA) hat sich darum verdient gemacht, den Lebensweg von Karl Schippa (* 1890, † 1945) so eingehend wie möglich zu rekonstruieren. Wir wissen deshalb heute, dass er als junger Mann zuerst bei der Eisenbahn arbeitete und zudem im Jahr 1916 der SPD und der Eisenbahngewerkschaft beitrat. Karl Schippa lebte zu dieser Zeit im westpreußischen Schneidemühl (und damit in der heutigen Stadt Piła in Polen), wo er im November 1918 in den lokalen „Arbeiter- und Soldatenrat“ gewählt wurde. Das Ende seines beruflichen Wirkens als Eisenbahner erfolgte im Jahr 1921, als Karl Schippa von der Deutschen Reichsbahn (gegr. 1920) entlassen wurde - und dies wegen so genannter „Rädelsführerschaft“, nachdem ein Ausbesserungswerk bestreikt worden war. Herr Schippa arbeitete danach beim brandenburgischen Landesarbeitsamt und verlor seine Anstellung erneut, als er unter dem NS-Regime bereits im Jahr 1933 aus dem Berufsleben verstoßen wurde - als Sozialdemokrat und als Gewerkschafter. Der Mann lebte danach in Berlin und hier zuletzt in der Ratiborstraße 2 in Kreuzberg, knapp fünf Kilometer entfernt vom Tempelhofer Ufer 34, wo er am 1. Mai 1945 ermordet wurde.
Karl Schippa: Sozialdemokrat - und ermordet, kurz bevor die Waffen schwiegen
Der Mord der SS an Karl Schippa ist mit einigen zusammenfassenden Worten auch und vor allem zeitlich einzuordnen: Die Schlacht um Berlin hatte am 16. April 1945 begonnen, als die Rote Armee mit einem harten Zangenangriff auf die gesamte Stadt das schon lange sich abzeichnende und immer schneller nahende Ende des NS-Regimes einleitete. Adolf Hitler hatte sich am Nachmittag des 30. April 1945 im „Führerbunker“ bereits das Leben genommen - und um etwa 22:00 Uhr wehte an demselben Tag auf dem Dach des Reichstagsgebäudes das rote Banner (mit „Hammer und Sichel“) der UdSSR, deren Streitkräfte schließlich auch im Stadtzentrum immer weiter vorstießen. Straße um Straße und Haus um Haus eroberte die Rote Armee hier dann auch bis zum Nachmittag des 1. Mai 1945, aber zu vereinzelten Gefechten kam es in der schon besiegten Stadt noch immer - so auch am Landwehrkanal in Kreuzberg, wo Karl Schippa kurz vor dem Ende einer schon lange entschiedenen Schlacht ermordet wurde. Berlin ergab sich am 2. Mai 1945 um ca. 08:00 Uhr morgens, auch die letzten versprengten "Wehrmachts- und Volkssturmeinheiten" in der Stadt legten nun die Waffen nieder: Die Rote Armee hatte gesiegt - keine zehn Stunden, nachdem Karl Schippa in der allerletzten Nacht der Kampfhandlungen erschossen worden war.
Die Grausamkeit des geschilderten SS-Verbrechens an ihm ist kaum in Worte zu fassen - und die tödlichen Schüsse auf den engagierten Sozialdemokraten sind kein Einzelfall: Die SS ermordete in den letzten Kriegstagen noch zahllose Zivilistinnen und Zivilisten. Der Stolperstein zu Ehren von Karl Schippa ist im Jahr 2013 vor der Ratiborstraße 2 verlegt worden (und damit an seiner letzten nachgewiesenen Wohnadresse), aber was in Berlin bis heute fehlt, ist eine Gedenktafel am Tempelhofer Ufer 34.
Das Haus, vor dem Karl Schippa erschossen wurde, steht schon seit langer Zeit nicht mehr. Der Tatort aber, an dem der mörderische Wahnsinn des NS-Regimes ihn hier tötete, konnte eindeutig nachgewiesen werden. Das Auge reicht vom Tempelhofer Ufer 34 weit hinein bis nach Kreuzberg, so etwa in Richtung der noch verbliebenen Gleise des verlassenen Anhalter Bahnhofs, die sich (weithin unbemerkt) nahe dem gegenüberliegenden Ufer des Landwehrkanals befinden. Die Gegend lässt mit ihrem vielfach sehr alten Mauerwerk in vielen verschiedenen Straßen zudem erahnen, wie Berlin seit dem beginnenden 20. Jahrhundert ausgesehen haben muss - und da eine Erinnerung an Karl Schippa fehlt, zeigt sich hier zugleich sehr deutlich, wie unsichtbar viele einzelne Ereignisse der hauptstädtischen Zeitgeschichte bis heute geblieben sind.
Nicolas Basse M. A. - Berlin, im Januar 2023